Kind gehörlos?

Joana Latein berichtet über die Diagnosestellung und die noch kurze Zeit danach.
 Verzweiflung, Hoffnungen und die Diskussion in ihrer Familie. Joana ist gegen ein CI, ihr Mann schwankt in seiner Meinung.

Stella - gehörlos, was nun?

Den 06.07.2001 werde ich nie vergessen. An diesem Tag bestätigte sich unsere
Befürchtung, Stella könnte gehörlos sein. Mir fiel schon vorher auf, dass irgendetwas anders war als bei ihren beiden Brüdern. Die Jungs “spielten” schon früh mit ihrer Stimme und hatten sichtliche Freude daran. Bei Stella entwickelten sich die Dinge anders oder besser gesagt, gar nicht. Sie verstummte nach dem 4. oder 5.Monat komplett, bis auf ihr Lachen und Schreien. Die einzigen Töne waren eine Art“ winseln” oder manchmal auch
“grunzen”. Wir fanden es einige Zeit ausgesprochen niedlich und dachten uns nichts dabei. Als sie fast 11 Monate alt war wusste ich, dass definitiv etwas nicht in Ordnung sein konnte.

Eine Woche später gingen wir ins Klinikum Großhadern um einen Hörtest durchführen zu lassen. Dieser fiel sehr schlecht aus und man sagte uns, dass wir Stella einer BERA unterziehen müssten, um alle Zweifel aus der Welt zu schaffen. Wir verließen verwirrt und voller Angst das Krankenhaus und eine Woche des Wahnsinns begann. Entweder wir weinten oder es schlug um in totale Verdrängung und Schönrednerei. Die Nacht vor der BERA konnte keiner von uns beiden wirklich Schlaf finden. Am nächsten Tag war ich so nervös, dass mir fast alles aus der Hand fiel. Die BERA verlief so wie wir es wahrscheinlich schon geahnt hatten. Diagnose: Taubheit beidseits . Bis 115 dB getestet ohne Reiz antworten. Mir wurde das Ergebnis durch die Anästhesistin neben Stellas Bettchen mitgeteilt, meinem Mann im Untersuchungsraum. Wir mussten auf Frau Professor xxxx warten, die die so genannten “ERA-Kinder” betreut, um nähere Einzelheiten zu erfahren.
Diese Dame erklärte uns sehr kühl und teilnahmslos (“für mich ist dieser Fall einer von Vielen”), dass Stella doch schon ein “altes Kind” sei und ich ja wohl schon früher hätte feststellen können, dass sie nicht hört. Man würde schon zwei Monate alte Kinder implantieren. Auf meine Anmerkung, dass ich von Fällen gehört habe, die man erst mit drei oder vier Jahren diagnostiziert hat, sagte sie uns sehr aufbrausend: ”Nun, so etwas kann ja wohl nur irgendwo in Ost-Anatolien unbemerkt an einer Familie vorübergehen”. Im Übrigen könnten wir doch glücklich sein, dass im Kopf alles in Ordnung ist. Schlimmer wäre es, wenn die Ohren okay seien, aber dafür eine geistige Behinderung vorhanden wäre. Wir sollten auch froh sein, dass wir hier in Deutschland leben, wo so viel medizinische Versorgung gewährleistet wird. Ferner hätten wir ja Geld (was auch immer das heißen soll). Nach diesem grauenhaften Gespräch wurden wir nach draußen geschickt, um auf einen Herren von der Frühförderung zu warten, der zufälligerweise an diesem Tag im Hause war. Ein Termin beim Hörgeräteakustiker ihrer Wahl, wurde von ihr persönlich noch vereinbart, dann waren wir entlassen. Entlassen mit tausend Fragen und Ängsten und einem weinenden Kind.

Den Nachmittag verbrachten wir wie in Trance, unfähig auch nur einen einzigen klaren Gedanken zu fassen. Schon am selben Abend begann ich mir seitenweise Informationen aus dem Internet zu drucken. Am Anfang war für uns ganz klar, dass Stella ein CI bekommen soll, um als Hörende in einer hörenden Familie aufzuwachsen. Innerhalb der nächsten beiden Tage wusste ich schon soviel über das Implantat, als ob ich mich vorher nie mit etwas anderem beschäftigt hätte. Sämtliche Freunde, Bekannte und natürlich die Familie riefen an, um uns quasi zu “kondolieren”. Jeder trug Informationen zu und jeder beschäftigte sich mit dem Thema. Das Telefon lief heiß und die E-mail´s flatterten nur so rein. Ich hatte unendlich viele Gespräche mit HNO Ärzten und alle waren sich einig, dass ein CI die beste Lösung wäre. Es ging uns alles nicht schnell genug, wir wollten so schnell wie möglich dieses “Wunderimplantat“. Zeitgleich lief auf “Arte” der Bericht “sound and fury” über Cochlear Implantate und eine kontroverse Diskussion in der Gehörlose und Hörende zu Wort kamen. Trotz allem merkte man aber schnell, dass man vermitteln
wollte, wie toll so ein CI sei und welche Möglichkeiten man seinem Kind damit bieten könne. Aber mich persönlich schreckte es ab.

Wollte ich das wirklich für Stella? Ich begann nachdenklich zu werden, während mein Mann noch immer fest davon überzeugt war, dass das CI die einzige Alternative sei. Nun begann ich mich in die andere Richtung zu informieren. Ich nahm mit Frau Kestner Kontakt auf, die mich in meiner Meinung bestätigte, dass die Gebärdensprache Stellas “Muttersprache” ist, sie auch als gehörloses Mädchen, ohne CI, ihren Weg machen kann.
Sie erzählte mir viel über das Leben der Gehörlosen, deren Kultur und deren Sprache.
Sie erklärte mir auch, dass es wenig Sinn hätte, ein CI zu implantieren, wenn ich nicht völlig hinter der Entscheidung stehen würde.

Warum sollte ich Stella meine Welt aufzwingen? Ich bestellte mir “Tommys Gebärdenwelt”, um einen Einstieg in Stellas Sprache zu bekommen. Das weit größere Problem war mein Mann. Er spürte, dass ich den bis dahin eingeschlagenen Weg zu verlassen begann und ich mich immer mehr gegen das CI entschied. Zuerst wollte er mir nicht einmal zuhören und wehrte sämtliche Gespräche hinsichtlich der neuen Perspektiven (Gebärdensprache) ab.

Eigentlich wollte ich jetzt damit abschließen, dass wir uns gegen das CI entschieden haben. Denn mein Mann ließ sich (so schien es zumindest) von mir überzeugen, dass Stellas Weg ohne CI verlaufen sollte. Auch dieses hat sich wieder geändert. Jetzt will er ein halbes Jahr warten und zwischenzeitlich sehen wie es mit den Hörgeräten läuft, die wir diese Woche anpassen werden. Er informiert sich aber stark in die andere Richtung und
sucht weiterhin Kontakt zu Ärzten und zu Eltern, deren Kinder implantiert sind, während ich Anschluss zu Gehörlosen suche und mich in Gebärdensprache übe. Es herrscht Zwiespalt in unserer Familie und genau so wird es anderen Betroffenen wohl auch ergehen. Alles hängt noch in der Schwebe und eine Fortsetzung dieses Berichtes wird sicherlich bald folgen.

Joana Latein

verantwortlich i.S.d.P: Joana und Jonas Latein

Emails an Frau Latein sind ausdrücklich erwünscht!
Anmerkung von Karin Kestner:
Familie Latein hat auf Anfrage bei der MHH einen Kostenvoranschlag für die Operation bekommen,
(ca. 120.000 DM) anscheinend zur Entscheidungshilfe auch Stapelweise Werbung der verschiedenen CI-Hersteller und einige Zeitschriften der  Schnecke.


© 2000 Karin Kestner, Mail to: karin@kestner.de , Home: http://www.kestner.de/