SEHEN STATT HÖREN

... 16. August  2003                                                          1145. Sendung

In dieser Sendung:

„DEAF HISTORY“ – Folge 4

SCHÜTZ, WILKE, KRUSE - Die drei bedeutendsten gehörlosen Lehrer des 19. Jahrhunderts

in Deutschland

Präsentator Jürgen Stachlewitz: Hallo, willkommen bei Sehen statt Hören. Gehen Sie wieder mit uns auf Zeitreise durch die „Deaf History“! Dabei treffen wir heute drei der bedeutendsten gehörlosen Persönlichkeiten in Deutschland. Sie waren alle drei Lehrer, die sich große historische Verdienste erworben haben. Freiherr Hugo von Schütz besuchte von 1788 bis 1797 die Gehörlosenschule in Wien, wo er nach dem Vorbild der Pariser Schule von Abbé de l’Epée mit der „manuellen Methode“, also auch mit Gebärden, unterrichtet wurde. Später, nach der Rückkehr in seine Heimatstadt Bad Camberg, gründete er eine eigene Gehörlosenschule, in der ebenfalls Gebärdensprache einen festen Platz im Unterricht hatte. Jochen Muhs kann Ihnen mehr über ihn erzählen!


„DEAF HISTORY“

Hugo Freiherr von Schütz zu Holzhausen

Moderation Jochen Muhs: In meiner Freizeit interessiere ich mich sehr für Gehörlosen-Geschichte. Da lese und sammle ich Bücher, alte Dokumente oder Gehörlosenzeitungen. Dabei bin ich auf eine interessante gehörlose historische Persönlichkeit gestoßen, an der man sehen kann, wie Gehörlose früher gelebt haben. Es gibt sogar schon einen Videofilm über diesen Gehörlosen: Sein Name ist Hugo Freiherr von Schütz zu Holzhausen. Er ist der einzige gehörlose Schulgründer und –Direktor, den es bei uns in Deutschland gab. Und von diesem Video möchte ich Ihnen Einiges zeigen.

Porträt: Hugo von Schütz, 1780 - 1847

Ausschnitt aus dem Videofilm: „AUFTRITT DIREKTOR VON SCHÜTZ“ (Universität Hamburg, 1995)

Dialog Schülerin / Direktor von Schütz:

- Entschuldigung, ich wollte nur etwas holen.

  Ich habe etwas vergessen.

- Es ist nicht so schlimm. Sie brauchen nicht

  zu erschrecken. Ich bin der frühere Direktor

  der Taubstummenanstalt in Camberg. Mein

  Name ist ...

- Sie können gebärden?

- Ja, das kann ich.

- Wo haben Sie das denn gelernt?

- Ich bin selbst taubstumm.

- Was?? Sie sind taubstumm?

- Ja! Die meisten Fächer habe ich an meiner  

  Schule selbst unterrichtet Zum Beispiel Re-

  ligion, Sprache, und Real-Unterricht.

- Real-Unterricht? Was bedeutet das?

- Ich zeige es Ihnen. Kommen Sie!

Lehrplan von 1823: „Real-Unterricht“ = Sachunterricht

Jochen: Hugo von Schütz ist in einer Adelsfamilie aufgewachsen. Seine Eltern hatten 22 Kinder, von denen 4 gehörlos waren! Sein Vater war Oberamtmann und konnte es sich daher leisten, Hugo nach Wien zu schicken. An der Wiener Taubstummenschule wurde er nach der französischen Methode, also nach der Pariser Schule des Abbé de’l Epée, unterrichtet. Er bekam eine sehr gute Schulbildung durch Gebärden und Fingeralphabet. Und er beherrschte ausgezeichnet die Schriftsprache!

Alte Graphik: „Handalphabet der Taubstummen“

Jochen: Nach seiner Schulentlassung 1797 kehrte er nach Camberg zurück. Das liegt nördlich von Wiesbaden. Er gab gehörlosen Kindern Privatunterricht. Zuerst nur für wenige. Aber dann wurden es immer mehr. Der Herzog von Nassau stellte ihm ein Schulgebäude und Geld zur Verfügung. So konnte er 1820 das „Herzoglich Nassauische Taubstummeninstitut“ gründen und dort als Lehrer und Direktor arbeiten.

Fotos: Amthof, Bad Camberg (Ort des Privatunterrichts) Schulgebäude Gutenberger Hof (steht heute nicht mehr)

Videoausschnitt (Schütz):

Ich ließ im „Intelligenzblatt“ eine Bekanntmachung veröffentlichen. Davon ist ein Abdruck hier im Buch. So fand die Nachricht große Verbreitung. Und bei der feierlichen Eröffnung am 15. Juni 1820 wurde die ganze Umgegend auf das Schicksal Taubstummer aufmerksam. 3 Jahre später waren es dann sogar schon 39 taubstumme Schüler! Ich bin ja selbst taubstumm, und ich bin bis heute der einzige gehörlose Schulgründer und Direktor in Deutschland geblieben! Durch mein Engagement wurde ich in Anerkennung meiner Verdienste zum Direktor und zum Hofrat ernannt.

Dokument: Ernennung zum Hofrat 1820

Jochen: Drei Frauen aus Hamburg haben diesen Film gedreht: Claudia Kaltenbach, Studentin (hörend), Angela Staab, Sozialpädagogin (gehörlos) und Renate Fischer, Professorin für Gebärdensprach-Linguistik und Geschichte der Gehörlosen-Gemeinschaften an der Universität Hamburg. Renate Fischer hat auch die wissenschaftliche Recherche gemacht. Wie kam sie auf die Idee zu diesem Film?

Prof. Renate Fischer: Wenn man Forschungsergebnisse zur Geschichte der Gehörlosen in Texten präsentiert, dann hat man nur eine sehr begrenzte Möglichkeit, um die Geschichte lebendig werden zu lassen. Wenn man aber einen Film mit Original-Dokumenten und an historischen Orten dreht, dann kriegt das Ganze eine ganz andere ästhetische Qualität. Und man kann damit belegen, dass es Geschichte der Gehörlosen überhaupt gibt.

Dokument mit Unterschrift des Direktors Hugo von Schütz (1825)

Schulchronik aus dem Jahr 1827, Eintragungen von Besuchern

Videoausschnitt (Dialog Schülerin/Schütz)

- Ich lebe bei einer Pflegefamilie, wie andere

  Schüler auch. Denn unsere Schule ist kein

  Internat. Und meine Eltern wohnen weit

  weg, in Haslach. Ich fingere das mal lieber:

  H – A – S – L – A – C – H.

- Ich helfe Ihnen mal. Sie „fingert“ ein biss-

  chen anders. H – A – S – L – A – C – H.

Jochen: Hugo von Schütz war von 1820 an Direktor des Camberger Taubstummeninstituts. Aber, was doch sehr verwunderlich ist, nur für 8 Jahre! Warum so kurze Zeit?

Prof. Fischer: Offiziell heißt es, dass Hugo von Schütz aus Krankheitsgründen selbst um seine Entlassung gebeten hätte. Und das stimmt, man findet historische Dokumente, die das belegen. Es gibt z. B. mehrere Gesuche, von ihm handgeschrieben, an die Regierung, sie möge ihn entlassen. Und es gibt auch mehrere Atteste von ärztlicher Seite, die diese und jene Krankheit attestieren und anraten, er möge seine Tätigkeit beenden. Auf der anderen Seite gibt es andere Dokumente, die auf eine ganz andere Problematik hinweisen: Schon Jahre vor seiner Entlassung wurde die Anzahl der Unterrichtsstunden, die er gegeben hat, erheblich gekürzt. Die Fächer, die er unterrichtete, wurden verringert, in der Anzahl, in der Art. Die Konkurrenz zu den hörenden Mit-Lehrern, die er zunächst selbst ausgebildet hatte, wurde immer größer. Und es gibt ganz eindeutig auch ein Dokument, das sagt, dass Hugo von Schütz als Hemmschuh empfunden wurde bei der Einführung der so genannten Lautsprachmethode.

Videoausschnitt: Hugo von Schütz unterzeichnet am 10. 2. 1828 sein Entlassungsgesuch

Video „Auftritt Direktor von Schütz“, 60 Min., VHS, € 24,50

www.signum-verlag.de

Denkmal, Off-Sprecher: Das Freiherr-von-Schütz-Denkmal vor der Gehörlosenschule in Bad Camberg. Die Schule (erbaut 1875) trägt den Namen „Freiherr-von-Schütz-Schule“.

Bericht                       Gerhard Schatzdorfer

Moderation               Jochen Muhs

Dolmetscherin        Eveline George

Kamera                     Holger Heesch

                                   Thomas Mayer

Schnitt                       Sabine Brackmann


2. Moderation Jürgen Stachlewitz: Die zweite historische Persönlichkeit ist Carl Heinrich Wilke. Er wurde im Jahr 1800 geboren und besuchte die Berliner Gehörlosenschule, an der nach der „kombinierten Methode“ unterrichtet wurde, also einem Vorläufer der heutigen bilingualen Methode. Nach seinem Studium an der Kunstakademie war er 54 Jahre lang Lehrer in Berlin und wurde als der erste Zeichner von Schul-Wandbildern sogar über die Grenzen Deutschlands hinaus bekannt.


Carl Heinrich Wilke

Historischer Unterricht (um 1900), Lehrer: Die Hände sind gefaltet, der Rücken angelehnt, und die Füße stehen parallel. So müsst ihr die ganze Stunde über sitzen. Wehe, wer sich rührt!

Jürgen: Dieses Schulmuseum, in dem wir gerade sind, liegt in Ostfriesland. Hier sind auch Bilder zu sehen, wie sie früher in vielen Schulen an den Wänden hingen. Alle Bilder dieser Ausstellung wurden von einem gehörlosen Lehrer gemalt. Sein Name war: Carl Heinrich Wilke. Das ist die Namensgebärde für Wilke. Helmut Vogel hat sich darauf spezialisiert, die Geschichte der Gehörlosen zu erforschen. Und er hat sich auch schon ausführlich mit dem Leben und Werk von Wilke beschäftigt. Kannst du uns bitte diesen Mann kurz vorstellen?

Helmut Vogel: Ja, gern. Wilke wurde im Jahr 1800 in einem Dorf bei Berlin geboren, in Rhinow. Er ist im 2. Lebensjahr ertaubt. Mit 7 Jahren kam er nach Berlin an die Gehörlosenschule, wo damals schon auch Gebärdensprache verwendet wurde, von engagierten Lehrern. Sogar den ersten gehörlosen Lehrer gab es da schon. Wilke konnte rasch viel Wissen erwerben, und schon, als er 8 Jahre alt war, erkannten die Lehrer seine große Begabung. Auf ihren Vorschlag hin kam er später an die Kunstakademie in Berlin und studierte 5 Jahre lang Malerei und Zeichnen. Als er fertig war, holte ihn die Schule wieder zurück, weil sie ihn brauchte. Ab 1820 war er dort Lehrer, zuerst Hilfslehrer, dann bald richtiger Lehrer. Bis 1874 hat er durchgehend, insgesamt 54 Jahre, an der Berliner Taubstummenanstalt unterrichtet, als Lehrer und Zeichenlehrer.

Foto von Wilke (1800 - 1876)

Helmut: Beim Unterrichten merkte er, dass es kaum Material für die       Kinder gab. Es fehlte besonders an Zeichnungen, aus denen die Kinder etwas lernen konnten. Da hat er es einfach selbst versucht und als erstes

ein Wörter-, nein, ein Bilder- und Wörterbuch für taubstumme Kinder herausgegeben.

Bild: Tätigkeitswort "Zeichnen" und Tätigkeitswort "Reisen"

Helmut: 1839 erschienen dann seine "Bildertafeln für den Anschauungsunterricht", aus denen z.B. dieses Bild stammt. 16 waren es insgesamt. Da hat er es wirklich geschafft, Szenen aus dem Leben so zusammenzustellen, dass man sie sofort mit der eigenen Anschauung verbinden und die Inhalte im Unterricht leicht behandeln konnte - in Gebärdensprache wie auch in Lautsprache, je nach dem. Diese Bilder fanden große Verbreitung, hatten 11.000 Stück Auflage und blieben lange Zeit, bis 1860, ohne Konkurrenz. Erst dann gab es andere, neue.

Bilder: "Dorf", "Feldernte" und "Scheune"

Jürgen: Hier im Ostfriesischen Schulmuseum treffe ich noch zwei weitere Fachleute. Meine Frage an sie: Wilke hat seine Anschauungsbilder ja für den Unterricht an der Berliner Taubstummenschule gemacht. Wie kam es dann, dass auch so viele Schulen für Hörende so großes Interesse hatten, diese Bilder zu kaufen, auch über die Grenzen hinaus, bis nach Holland?

Jaap ter Linden, Direktor Schulmuseum Rotterdam: In unserem Schulmuseum in Rotterdam zeigen wir die Wilke-Bilder immer, weil sie die ersten Schulwandbilder waren, die ersten Schulwandbilder überhaupt in den Niederlanden, weil sie interessant sind, weil wir nicht wissen, ob sie auch noch in Gehörlosen-Einrichtungen und –Schulen benutzt worden sind. Das wissen wir nicht. Wir wissen nur, dass sie auf Normal-Schulen benutzt worden sind. Also, wir haben noch sehr viel Untersuchungen zu machen über die sehr interessante Figur von Wilke.

Bilder: "Lehren" und "Lernen" und  "Spielen"

Kurt Dröge, Volkskundler: Carl Wilke ist in mehrfacher Hinsicht von großer Bedeutung. Einmal im Hinblick auf den Gehörlosen-Unterricht. Zum Zweiten, wenn man so will, als Begründer des Schul-Wandbildes! Er steht für den Übergang vom Handbild, was man noch in der Hand tragen kann, zum Wandbild, was für die ganze Klasse sichtbar war. Und zum Dritten, und das wird bisher häufig übersehen, ist Wilke für die allgemeine Entwicklung der Druckgraphik im 19. Jahrhundert meiner Meinung nach von ganz großer Bedeutung gewesen.

Es werden verschiedene Bilder gezeigt: "Feldernte", "Bauplatz", Carl Wilke und Direktor Ludwig Reimer (ca.1875)

Helmut: Schön, dass hier Wilke und Reimer auf einem Bild zusammen sind.

Jürgen: Ja, sehr interessant. Kannst du uns noch sagen: Was war das Bedeutende an Wilkes Person?

Helmut: Da gibt es Vieles. Zunächst seine lange Tätigkeit als Lehrer, 54 Jahre. Zum 50-jährigen Dienstjubiläum bekam er einen Verdienstorden verliehen, vom Preussischen König, dem späteren Deutschen Kaiser. Das war 1870 ganz sicher eine Seltenheit. Und zweitens, dass er als Lehrer sehr großen Einfluss auf die gehörlosen Kinder hatte, die im Unterricht sicher sehr viel von ihm gelernt haben. Einer seiner Schüler war Eduard Fürstenberg, der zu einer der bekanntesten Figuren der Gehörlosenbewegung wurde, als Gründer des ersten Gehörlosenvereins in Berlin.

Zeitschrift: "Der Taubstummenfreund" mit Nachruf auf Wilke (1876)

Bildausschnitt: "Bauernhof" (mit Taubenschlag)

Bericht:                      Gerhard Schatzdorfer

Dolmetscherin:       Herma Riemer

Kamera:                    Ralf Hildebrand

Ton:                           Olaf von Gowinski

Schnitt:                      Andreas Miekisch


Moderation Jürgen Stachlewitz: Dann kommen wir jetzt zum bekanntesten gehörlosen Lehrer in Deutschland: Das war Otto Friedrich Kruse, der 1801 in Hamburg-Altona geboren wurde und 55 Jahre lang in Schleswig unterrichtete. Und es ist wieder Helmut Vogel,

der uns sein Leben und sein Werk vorstellt.


Otto Friedrich Kruse

Porträt von Otto Friedrich Kruse, Lehrer und Publizist, 1801 – 1880

Helmut: Früher war hier noch freie Landschaft, und die Schlei war ganz in der Nähe.

Jürgen: Und hier ist also der kleine Otto Friedrich Kruse zur Schule gegangen?

Helmut: Ja, genau hier. Nur, das Gebäude, das wir hier sehen, ist neu erbaut worden, an der Stelle des alten Schulhauses. Ein gewisser Georg Pfingsten hat zuerst die Taubstummenanstalt in Kiel gegründet, die dann 1810 hierher umgezogen ist. Kruse hat diese Schule bis 1817 besucht. Er muss also auch hier im Schulhof herumgelaufen sein. Das frühere Gebäude war auch ziemlich groß, wurde aber später abgerissen. Es gibt noch ein altes Bild davon, im Städtischen Museum. Das könnten wir uns dort anschauen.

Jürgen: Ja, gut.

Kupferstich: Königliches Taubstummen-Institut Schleswig

Jürgen im Städtischen Museum: Was war das damals für ein Unterricht, den Kruse als

Kind hier bekommen hat? Und wie hat es ihm gefallen?

Helmut: Er wurde ja hörend geboren, und als er mit 6 Jahren ertaubte, wusste er nicht mehr, wie er kommunizieren sollte und war sehr deprimiert. Seine Eltern hörten von der Kieler Gehörlosenschule, und dort machte es ihm Freude, dass auch mit Gebärdensprache unterrichtet wurde. Das gefiel ihm sehr gut und er lernte viel, auch nach dem Umzug nach Schleswig. Als Ertaubter war er auch im Lesen sehr schnell von Begriff und konnte sich durch den Unterricht in Gebärdensprache und Lautsprache sehr gut entwickeln. Das wurde damals die „kombinierte Methode“ genannt. Und er hatte einen Lehrer, der ihn sehr stark förderte. Sein Name war Hans Hensen. Als junger Lehrer wie auch später als Vorsteher stand er immer in enger Beziehung zu Kruse.

Porträt Hans Hensen (1786 – 1846)

Helmut: Als Hilfslehrer arbeitete er mit den Kindern den Lehrstoff in Gebärdensprache durch. Man setzte die gehörlosen Lehrer damals als „lebende Wörterbücher“ ein, um den Schülern durch Gebärdensprache das Verständnis der schriftlichen Texte zu erleichtern. Ab 1825 sammelte er dann andere wertvolle Erfahrungen. Nach seiner Rückkehr nach Schleswig 1834 bekam er endlich mehr Verantwortung und konnte als Klassenlehrer und in einer ganzen Reihe von Fächern auch als Fachlehrer an der Schule unterrichten.

Bild: Taubstummen-Institut Schleswig um 1860

Helmut: Insgesamt war er 55 Jahre als Lehrer tätig! Erst 1872 ging er in Pension. Er erhielt auch vier hohe Orden für seine Verdienste. Ich glaube, einen so bedeutenden Gehörlosen wie ihn hat es in Deutschland nicht gegeben. Ihm wurde sogar vom Gallaudet-College in Washington 1873 die Ehrendoktor-Würde verliehen! 1880 starb er.

Kruse mit Orden

Jürgen: Welche seiner Publikationen sind besonders wichtig?

Helmut im Landesarchiv: Er hat mehr als zehn Bücher geschrieben, über Gehörlose, aber auch über die hörenden Lehrer an den Gehörlosenschulen. Wenn ich die wichtigsten davon herausgreifen soll, würde ich vier nennen. Das erste ist aus dem Jahr 1832 und heißt „Der Taubstumme im unkultivierten Zustande...“ Da beschreibt Kruse das Leben von Taubstummen, über 25 Personen, aus Frankreich, Deutschland und anderen Ländern. Das es so eine Sammlung von Lebensbildern damals schon gab, ist sehr beachtlich. Das zweite Buch ist von 1853. Da hatte Kruse eine Europareise gemacht, auf der er 27 Gehörlosenschulen in verschiedenen Ländern besuchte, und seine Erfahrungen dann aufgeschrieben hat. Dieses Buch mit dem Titel „Über Taubstumme, Taubstummen-Bildung und Taubstummen-Institute“ fand besonders große Verbreitung. Es hatte ungefähr 500 Seiten und war sicher das bekannteste Buch von Kruse. Und ein drittes Buch finde ich besonders interessant, auch wenn es nicht so viele geschichtliche Fakten enthält. Es ist von 1869 und heißt: „Zur Vermittelung der Extreme in der deutschen und französischen Unterrichtsmethode“. Darin hat er entschieden gegen die Entwicklung in Deutschland zur oralen, genauer gesagt zur rein oralistischen Methode protestiert, deren Grundidee es war, die Gebärdensprache völlig aus dem Unterricht auszuschließen. Er sah diese Entwicklung schon früh und hat mit Nachdruck davor gewarnt, unter anderem mit dieser Broschüre von etwa 50 Seiten, in der er genau begründet, warum man die Gebärdensprache nicht weglassen darf. Sie wurde später auch ins Französische und Englische übersetzt.

Buchtitel „Vermittelung...“ und „Bilder aus dem Leben eines Taubstummen“ (Autobiographie)

Gedenkfeier im Gehörlosenzentrum Kiel zum 200. Geburtstag von O. F. Kruse

Vortrag Helmut Vogel: „Deutsche Methode“ ist für viele Leute heute nur die „rein orale Methode“. Aber sie beinhaltete auch Gebärdensprache! Erst später änderte sich das. Darum sage ich lieber „kombinierte Methode“. Es gab die orale und die kombinierte, und in Frankreich die manuelle Methode. Und es gab sehr viele Zwischenformen. Zum Kampf der „reinen Methoden“ kam es erst ab 1870. Da ging ein richtiger Krieg los! Jeder nahm für sich in Anspruch, die bessere Methode zu haben. Das war später, dass dieser historische Streit aufkam. Heute wissen wir, dass es vorher weniger Gegensätze gab. Durch die Forschung bekommen wir jetzt ein besseres Gefühl dafür. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!

Bericht:                      Gerhard Schatzdorfer

Moderation               Jürgen Stachlewitz

Kamera:                    Holger Heesch

                                   Detlev Niebuhr

Schnitt:                      Rosemarie Hörl

Kultur und Geschichte Gehörloser

www.kugg.de

Deaf History International

www.dhi2003.org


4. Moderation Jürgen Stachlewitz: Nach diesen drei gehörlosen Lehrern des 19. Jahrhunderts kommen wir nächstes Wochenende zu den „Vätern der Gehörlosenbewegung“: Eduard Fürstenberg, der in Berlin 1848 den ersten Verein gründete, und John Pacher, der in Hamburg sehr viel für Gehörlose geleistet hat. Tschüß - bis dahin!

Fax-Abruf-Service „Sehen statt Hören“: 0190 / 150 74 107 (EUR 0,62 / Min.)

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Redaktion: Francine Gaudray, Bayer. Rundfunk, Ó BR 2003 in Co-Produktion mit WDR

Herausgeber: Deutsche Gesellschaft zur Förderung der Gehörlosen und Schwerhörigen e. V.

Paradeplatz 3, 24768 Rendsburg, Tel./S-Tel.: 04331/589722, Fax: 04331-589745

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