SEHEN STATT HÖREN
... 20. Mai 2001 1048. Sendung
In dieser Sendung:
Eine Minderheit innerhalb der Minderheit Gehörlose Juden im Konflikt zwischen zwei Kulturen
Ein großer Humanist - Zum 200. Geburtstag des gehörlosen Lehrers Otto Friedrich Kruse
PRÄSENTATOR Jürgen Stachlewitz: Hallo, willkommen bei Sehen statt Hören! Unser erstes Thema heute: Geschichte und Gegenwart gehörloser Juden. Dazu haben wir als Fachmann Mark Zaurov eingeladen. Im zweiten Beitrag gehen wir noch viel weiter zurück in die Deaf History und stellen Ihnen Otto Friedrich Kruse vor. Wie war die Situation zur Zeit des Nationalsozialismus in Deutschland?
”Jüdische Gehörlose”
Mark Zaurov: 1933 lebten in Deutschland über eine halbe Million Juden. Die größte Synagoge Norddeutschlands stand genau hier. Sie hatte eine 40 m hohe Kuppel und 1200 Sitzplätze, die nach Männern und Frauen getrennt waren. In der Pogromnacht 1938 wurde sie niedergebrannt und im Jahr 1940 völlig abgerissen. Es blieb nichts mehr übrig.
Gedenkstätte für die ehemalige Hauptsynagoge Hamburg
Reichsbahn-Waggon zur Deportation von Juden
Gedenktafel ”Platz der Deportierten”
Mark Zaurov: Auf diesem Platz am Dammtor-Bahnhof mussten sich die Juden aus Hamburg versammeln, bevor sie mit Zügen in die Vernichtungslager gebracht wurden. Nach Kriegsende 1945 lebten in ganz Deutschland nur noch 15.000 Juden. Heute sind es durch die Zuwanderung aus Russland mehr, ca. 70 – 80.000.
Jürgen Stachlewitz: Wie viele Gehörlose überlebten den Holocaust? Und wie viele gehörlose Juden leben heute in Deutschland?
Mark: Im Holocaust wurden insgesamt 6.000 gehörlose Juden ermordet. In Deutschland überlebten nur sehr wenige. Nach Biesold sind es 22. Ich fand heraus, dass es etwas mehr waren. Über die gehörlosen Juden, die heute hier leben, gibt es keine Statistik. Ich schätze, es sind ca. 100. Allein in Hamburg kenne ich 7 gehörlose Juden.
Jürgen: Mark hat gerade seine Magisterarbeit fertig gestellt, zum Thema: ”Gehörlose Juden – eine doppelte kulturelle Minderheit”. Darin las ich: In den USA leben 25.000 - 50.000 gehörlose Juden. Aber 95 % von ihnen bekennen sich nicht offen zum Judentum. Warum ist das so?
Mark: Es gibt verschiedene Gruppen. Die orthodoxen Juden sagen, dass 95 % der anderen darin keine Perspektive sehen. Ein Widerspruch ist, dass die meisten sich aber doch wünschen, dass ihre Kinder jüdisch aufwachsen. Da passt etwas nicht zusammen. Man will vielleicht ”seine Ruhe” haben, sich politisch anpassen und beruflich vorwärts kommen, ohne dass man Ärger bekommt. Religion wird in den USA meistens als reine Privatsache angesehen. In Amerika können aber auch orthodoxe Juden Karriere machen. Es gibt z.B. 5 gehörlose Rabbiner, darunter auch eine Rabbinerin. Sie üben ihr Amt in Gebärdensprache aus. Das ist in den USA möglich, weil dort Gebärdensprache anerkannt ist. Man kann es weiter bringen.
Jürgen: Du hast jetzt von Amerika erzählt. Wie sieht es in Deutschland aus? Wird hier auch das Judentum verheimlicht?
Mark: Deutsche gehörlose Juden haben dafür tiefere psychologische Gründe. Der Holocaust wirkt hier stark nach. In der Gehörlosengemeinschaft ist dieses Thema wohl noch nicht richtig verarbeitet worden. Man weiß zu wenig darüber. Manchmal wird noch das Gebärdenzeichen mit der ”krummen Nase” verwendet. Vorurteile können spürbar werden. Die jüdischen Gehörlosen wollen damit nicht konfrontiert werden und bleiben lieber unsichtbar damit Ruhe ist. Es ist ja auch eine Belastung für sie, wenn alle auf sie schauen. Sie wollen den Kontakt zur Gemeinschaft nicht verlieren. Das sind, auch nach meiner Erfahrung, die psychischen Gründe dafür.
Jürgen: In Marks Magisterarbeit habe ich auch gelesen, dass es einen ”Kultur-Konflikt” und Identitätskonflikte bei gehörlosen Juden gibt, ob sie zur Gehörlosengemeinschaft oder zu den hörenden Juden gehören. Haben es hörende Juden leichter?
Mark: Ja. Sie können überall Kontakte aufnehmen und Gespräche führen. Gehörlose finden dort niemanden, mit dem sie gebärden können. Aber in der Gehörlosengemeinschaft gibt es fast keine Juden. Deshalb sind sie eine doppelte Minderheit, die nicht recht weiß, wohin sie gehört, und die doppelte Konflikte auszustehen hat.
Jürgen: Kannst du Beispiele nennen, welche Probleme das sind?
Mark: Weil es so wenig gehörlose Juden gibt, entsteht folgendes Problem: In der jüdischen Kultur muss am Freitag und Samstag in den Familien Ruhetag gehalten werden. Aber die Gehörlosen haben gerade dann ihre Treffen, sportlichen Wettbewerbe und anderen Veranstaltungen, wenn die Juden ihren Sabbat feiern! Die gehörlosen Juden sind dadurch in ihren Kontakten sehr eingeschränkt. Oder auch, wenn es darum geht, seinen Ehepartner kennen zu lernen. Unter Juden ist der Druck groß, dass man jüdische Partner finden muss. Aber man findet kaum Gehörlose. Und Hörende will man meistens nicht. Aber wie soll man bei der geringen Zahl gehörloser Juden jemand treffen? Das ist hier in Deutschland ein viel größeres Problem als in den USA. Unter orthodoxen Juden dürfen sich nur Ehepartner die Hand geben oder intensiv in die Augen schauen! Gehörlose müssen das aber tun. Darum gibt es für sie eine Ausnahmeregelung beim Blickkontakt. Beim Händeschütteln oder beim Körperkontakten (Schulter-Tippen) ist es schwieriger! Nur in der Familie darf eine Mutter ihr Kind berühren. Sonst muss man sich auf Blickkontakte beschränken. Bei der heftigen Umarmung, wie sie unter Gehörlosen üblich ist, wissen gehörlose Juden gar nicht mehr, wie sie sich verhalten sollen!
Jürgen: Orientieren sich gehörlose Juden nicht doch stärker an der GL-Gemeinschaft?
Mark: Im Allgemeinen ja. Sie wenden sich der Gehörlosengemeinschaft zu und meiden die jüdische Gemeinschaft - wegen ihrer Gehörlosigkeit! Die jüdische Kultur lebt von der Musik, vom Vorlesen, vom Singen, vom Blasen des Horns (Shofar). Das hören Gehörlose alles nicht. Sie können auch nicht ”Gottes Stimme hören”. Darum brauchen sie das nicht zu lernen, sind offiziell davon befreit! In der Gehörlosengemeinschaft können sie in Gebärdensprache alles verstehen. Dort nicht. Darum haben sie so wenig Interesse an der jüdischen Kultur. Wenn es gehörlose Rabbiner gäbe, wie in den USA, könnte sich schon eher etwas entwickeln. Aber die gibt es ja nicht. Bei uns könnten auch Dolmetscher das gesprochene Wort übersetzen. Da wäre sicher Interesse vorhanden. Oder, wenn das Widderhorn geblasen wird, könnten die Gehörlosen auch mittels eines Luftballons die Vibrationen fühlen und die Klänge spüren. So kann man z.B. Gehörlosen das Judentum näher bringen. Aber am meisten bewirkt ein Rabbiner, der gebärden kann.
Jürgen: Heute geht es bei uns um ein spannendes Thema: Um das Verhältnis der Gehörlosengemeinschaft in Deutschland zu den gehörlosen Juden, einer Minderheit innerhalb ihrer eigenen Minderheit. Mark Zaurov kritisiert in seiner Arbeit auch den Deutschen Gehörlosenbund und dessen Vorgänger, den Regede. Das war der Reichsverband der Gehörlosen Deutschlands. Stellst du bitte dazu Fragen? Und könnt ihr dann darüber diskutieren?
Mark: Damals, ab 1933, war der Regede eine nationalsozialistische Organisation. Wie steht der Deutsche Gehörlosenbund als Nachfolgeorganisation dazu?
Gerlinde Gerkens, Dt. Gehörlosenbund: Erst einmal gratuliere ich dir zu deiner Magisterarbeit! Ich finde es toll, dass du so eine Arbeit geschrieben hast, zur Aufklärung. Zu deiner Frage über den damaligen "Regede" sage ich ganz offen: Ich stehe dazu, denn der "Regede" wurde schon 1927 gegründet, als die Nazis noch nicht an der Macht waren. Später wandelten sie ihn um. Wir haben deshalb nicht im vorigen Jahr das 50-Jahr-Jubiläum begangen, sondern feiern im nächsten Jahr unser 75-jähriges Bestehen. Und da will ich, dass das Kapitel Nazizeit ganz offen behandelt wird, und nicht, dass man sagt: Weg mit diesen ”alten Geschichten”!
Marc: Ab 1933 gab es Bestimmungen, die besagten: Juden müssen raus, sie müssen aus den Vereinen ausgeschlossen werden. Die gehörlosen Juden wurden aus den Vereinen verwiesen, wie z.B. in Berlin 33 Mitglieder des Taubstummen-Unterstützungs-vereins. Den Gehörlosen wurde sogar jeder Kontakt mit Juden verboten. Wer mit Juden verkehrte, war ebenfalls vom Ausschluss bedroht. Also eine doppelte Diskriminierung. Was kannst du dazu sagen?
Gerlinde: Ich sage: Das betraf alle Juden, ob gehörlos, behindert oder hörend. Sie alle wurden damals von den deutschen Nationalsozialisten – aber nicht von allen Deutschen, das möchte ich betonen! – ”rausgeschmissen”. Ihr Ziel war: ”Juden raus!” Da waren wir machtlos.
Mark: Dieses Thema wurde aber bis jetzt in keiner Weise aufgearbeitet, weder von der Deutschen Gehörlosenzeitung noch vom Gehörlosenbund. Was wurde da bis jetzt gemacht?
Gerlinde: Du hast recht. Aber wir haben es trotzdem nicht vergessen. Im vorigen Jahr haben wir statt des 50-jährigen Jubiläums eine Arbeitstagung gemacht. Ich möchte aus dem Protokoll vorlesen. Ich fragte alle Mitglieder, ob es auch ihr Wunsch ist, was ich bei der 75-Jahr-Feier der Gründung in Weimar machen möchte. Ich möchte mich dort nicht nur schriftlich, sondern mit meinen Händen, ganz persönlich, in Gebärdensprache, dafür entschuldigen, was passiert ist. Ich habe den Vorsitzenden des Weltverbands der gehörlosen Juden eingeladen, um ihm darauf hin die Hand zu geben. Ich finde, das ist mehr wert als eine schriftliche Erklärung.
Mark: Es gibt wahrscheinlich noch mehr zu tun. Welche Vorstellungen hast du, wie man die Aufarbeitung, die Vergangenheitsbewältigung dieses Themas ”Gehörlose Juden” in Zukunft machen könnte?
Gerlinde: Gute Frage. Der Deutsche Gehörlosenbund ist nur ein kleiner Verband. Wir haben auch Arbeitsgruppen zur Kultur und Geschichte Gehörloser und zur Deaf History, in denen kompetente Leute mit uns zusammenarbeiten. Da könntest du mit deiner Erfahrung auch als Mitarbeiter dazu kommen. Ein erster Schwerpunkt werden die Kulturtage in München sein. Da hältst du ja auch einen Vortrag und bringst deine Perspektive ein. Dann sprechen wir weiter, wie wir das Konzept verfeinern. Ich bin dafür offen!
Jürgen: Ich habe euer Gespräch mit Interesse verfolgt und hoffe auch, dass sich daraus neue Perspektiven für die Zukunft ergeben! Noch eine Frage zu deiner Magisterarbeit: Gibt es diskriminierende Gebärden gegenüber Juden? Welche sind das?
Mark: Viele Gebärden sind neutral, aber es kommt auf die Mimik an. Es gibt alte Gebärden für ”Jude”, da wird die krumme Nase gezeigt, wie in den Nazi-Karikaturen. Oder ein Beispiel aus Berlin: Die Gebärden für ”Jude” und für ”gemein” sind gleich. Das könnte noch aus diesen Zeiten stammen. Aber nur mit böser Mimik kann man von Absicht sprechen. Sonst ist der Gebrauch normal. Ein anderes Beispiel. Diese Gebärde für ”Jude" kann in manchen Gebieten, z.B. in Bayern, auch ”schmutzig” bedeuten. Das ergaben meine Umfragen bei älteren Gehörlosen.
Gerlinde: Wenn ich ”Jude” so gebärde, ist das in Ordnung?
Mark: Ja, in Ordnung! Ich will niemandem vorschreiben, wie die Gebärden aussehen sollen. Ich zeige nur den kulturellen Hintergrund von Gebärden auf und überlasse die Entscheidung euch, wie ihr sie benutzen wollt!
Kamera : Holger Heesch
Schnitt: Tommy Laeng
Bericht: Gerhard Schatzdorfer
Wir danken der Jüdischen Gemeinde Hamburg
Jürgen Stachlewitz: Genau vor 200 Jahren wurde hier in Hamburg-Altona, das damals noch zum Königreich Dänemark gehörte, ein Mann geboren, der eine der bedeutendsten Persönlichkeiten in der Geschichte der deutschen Gehörlosen war: Otto Friedrich Kruse. Seine Namensgebärde ist so: Kruse. Diesen Mann, sein Leben und sein Werk, stellen wir Ihnen jetzt vor. Wir haben auch dafür einen gehörlosen Fachmann gefunden: Helmut Vogel.
Otto Friedrich Kruse - Lehrer und Publizist
1801 – 1880
Helmut Vogel: Früher war hier freie Landschaft. Die Schlei war ganz nahe.
Jürgen: Und hier ist der kleine Otto Friedrich Kruse zur Schule gegangen?
Helmut: Ja, genau. Nur das Gebäude ist neu. Das alte Schulhaus steht nicht mehr. Georg Pfingsten gründete zuerst die Taubstummenanstalt in Kiel. Sie zog 1810 hierher um. Kruse besuchte diese Schule bis 1817. Er muss also auch hier herumgelaufen sein. Das frühere Gebäude war auch groß, wurde dann aber abgerissen. Es gibt noch ein altes Bild davon, im Städtischen Museum. Schauen wir uns das dort an?
("Königliches Taubstummen-Institut Schleswig”)
Jürgen: Was für einen Unterricht bekam Kruse damals hier als Kind? Und wie hat es ihm gefallen?
Helmut: Er wurde ja hörend geboren und ertaubte mit 6 Jahren. Der plötzliche Verlust der Kommunikation hat ihn sehr deprimiert. In der Kieler Gehörlosenschule machte ihm der Unterricht in Gebärdensprache viel Freude. Das gefiel ihm. Er lernte viel. Als Ertaubter lernte er schnell lesen. Durch Gebärden- und Lautsprache entwickelte er sich sehr gut. Man nannte das die ”kombinierte Methode”. Und er hatte einen Lehrer, der ihn sehr förderte: Hans Hensen. Er wurde später Vorsteher. Kruse und er standen in enger Beziehung.
Foto: Hans Hensen - 1786 – 1846
Jürgen: Kruse war ab 1817 Hilfslehrer in Schleswig, dann 9 Jahre lang Privatlehrer in Altona und in Bremen, bis er 1834 wieder nach Schleswig zurückkehrte. Wie war sein beruflicher Werdegang?
Helmut: Zuerst war er sehr froh, dass er 1817 hier als Hilfslehrer eingestellt wurde. Er wollte dann auch das Seminar für Schullehrer besuchen, wurde aber wegen seiner Taubheit abgelehnt. Sechs Jahre musste er sich im Selbststudium die ganze Theorie und Praxis der Pädagogik aneignen, die man normalerweise in drei Jahren lernte. Als Hilfslehrer arbeitete er mit den Kindern in Gebärdensprache den Lehrstoff durch. Gehörlose Lehrer sollten wie ”lebende Wörterbücher” den Schülern das Verständnis der schriftlichen Texte erleichtern. Ab 1825 sammelte er andere wertvolle Erfahrungen. Nach seiner Rückkehr nach Schleswig 1834 bekam er mehr Verantwortung als Klassenlehrer und Fachlehrer an vielen Klassen der Schule. Taubstummen-Institut Schleswig um 1860 Insgesamt war er 55 Jahre als Lehrer tätig! Erst 1872 ging er in Pension. Er erhielt auch vier hohe Orden für seine Verdienste. Ich glaube, kein anderer Gehörloser war so bedeutend wie er. Ihm wurde sogar 1873 vom Gallaudet-College in Washington die Ehrendoktor-Würde verliehen! 1880 starb er.
(Im Landesarchiv Schleswig-Holstein)
Jürgen: Hier sieht man, wie viel Otto F. Kruse geschrieben und veröffentlicht hat! Mehrere Bücher sind darunter. Helmut, du hast auch deine Magisterarbeit über Kruse geschrieben. Welche seiner Publikationen sind besonders wichtig?
Helmut: Sein Werk ist wirklich umfangreich. Er schrieb mehr als zehn Bücher, über Gehörlose, aber auch über die hörenden Lehrer an den GL-Schulen. Für mich sind vier besonders wichtig. Das erste ist aus dem Jahr 1832. Es heißt: ”Der Taubstumme in uncultiviertem Zustande”. Da beschreibt Kruse das Leben von über 25 Taubstummen aus Frankreich, Deutschland und anderen Ländern. Eine beachtliche Sammlung von Lebensbildern Gehörloser. Das zweite Buch ist von 1853. Kruse hatte eine Europareise gemacht. Er besuchte 27 Gehörlosenschulen und schrieb seine Erfahrungen dann auf: ”Über Taubstumme, Taubstummenbildung und Taubstummen-Institute”. Dieses Buch fand besonders große Verbreitung. Es hatte ca. 500 Seiten und war das bekannteste Buch von Kruse. Ein drittes Buch ist interessant, obwohl es nicht so viele Fakten enthält. Es ist von 1869 und heißt: ”Zur Vermittelung der Extreme in der deutschen und französischen Unterrichts-Methode”. Darin protestierte er gegen die Entwicklung in Deutschland zur rein oralistischen Methode, die die Gebärdensprache ausschließt. Er warnte mit Nachdruck davor, u.a. mit dieser 50-seitigen Broschüre, in der er begründet, warum man die Gebärdensprache nicht weglassen darf. Sie wurde später ins Französische und ins Englische übersetzt.
(Im Gehörlosenzentrum Kiel: Gedenkfeier zum 200. Geburtstag von Otto Friedrich Kruse)
Helmut: Bei der ”Deutschen Methode” war für Kruse immer Gebärdensprache mit dabei! Ich benutze die Begriffe ”deutsche” / ”französische Methode” nicht gern. Da gibt es viele Widersprüche in der Forschung. Mit ”deutscher Methode” meint man immer ”rein oral”. Aber sie beinhaltete auch Gebärdensprache! Erst später änderte sich das. Darum sage ich lieber ”kombinierte Methode”. Es gab die orale und die kombinierte, und in Frankreich die manuelle Methode. Und es gab sehr viele Zwischenformen. Zum Kampf der ”reinen Methoden kam es erst ab 1870. Da ging ein richtiger Krieg los! Jeder nahm für sich in Anspruch, die bessere Methode zu haben. Das war später, dass dieser historische Streit aufkam. Aber heute wissen wir, dass es vorher weniger Gegensätze gab. Durch die Forschung bekommen wir jetzt ein besseres Gefühl dafür. Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!
Jürgen: Auf dieser Kruse Gedenkveranstaltung trafen wir überraschend auch diesen Herrn aus Norwegen. Was ist sein Eindruck?
Odd Schröder: Ich habe mich sehr über die Einladung zur Kruse-Feier gefreut. Ich arbeite ja an der Universität Oslo, ging gleich in unsere Bibliothek und holte mir dieses Buch von Kruse. Ich las es auf dem Flug hierher. Es sind die ”Bilder aus dem Leben eines Taubstummen”. Was ich da von Kruse las und jetzt durch Helmut Vogel über ihn erfuhr, erfüllt mich mit großer Hochachtung. Er schreibt als Taubstummenlehrer. Aber es geht ihm nicht nur um das Sprechen lernen, Artikulation oder einzelne Methoden, sondern um den ganzen Menschen. Ich muss wirklich sagen: Kruse war ein großer Humanist
Jürgen: Der Herr heißt Odd Schröder. Klingt ziemlich deutsch. Sein Gebärdenname ist so. Er wurde erst vor kurzem zum Präsidenten der internationalen Deaf-History-Organisation gewählt. Was gibt es in der Deaf History im Moment Neues?
Odd: Die ”Deaf History International” wurde seinerzeit in den USA beim ”Deaf Way”, dem großen Welt-Kulturfestival der Gehörlosen, aus der Taufe gehoben. Seither wurde schon eine Menge geforscht. Aber es muss nicht jeder für sich forschen. Wir stehen weltweit untereinander in Verbindung. Es geht um Kultur, Schulen, Gebärdensprache. Das gibt uns ”Deaf Pride”, also das Gefühl, dass wir viele Stärken haben!
Vortrag Gerlinde Gerkens, Dt. Gehörlose-Bund: Die Zusammenarbeit mit der Deaf History ist mir sehr wichtig. Viele wissen nichts über Geschichte. Woher kommen die Informationen? Jetzt forschen Gehörlose selbst und legen ihre Ergebnisse vor, so wie Helmut Vogel über Kruse. Früher war da nichts. Jetzt wird gearbeitet. Ich freue mich sehr, dass es solche Leute gibt!
Kamera: Holger Heesch
Detlef Niebuhr
Schnitt: Rosemarie Hörl
Bericht: Gerhard Schatzdorfer
Wir danken dem Landesarchiv Schleswig-Holstein und dem Städtischen Museum Schleswig
Jürgen Stachlewitz: Wenn man von hier die Elbe abwärts fährt und den Atlantik überquert, kommt man an der amerikanischen Ostküste zu einer idyllischen Insel: Martha’s Vineyard, auch bekannt als die ”Gehörlosen-Insel”! Wir haben einen Film darüber vom Schwedischen Fernsehen bekommen. Den zeigen wir Ihnen am nächsten Wochenende. Auf Wiedersehen, bis dann!
BR Sonntag 09:15 Uhr / BR-Alpha Mittwoch 15:15 Uhr
NDR Sonntag 08:30 Uhr / BR-Alpha Donnerstag 10:30 Uhr (WH)
WDR Samstag 08:00 Uhr / HR Samstag 08:00Uhr
SWR Sonntag 07:30 Uhr / ORB Samstag 08:30 Uhr
MDR/SFB Samstag 10:00 Uhr / MDR/SFB Montag 08.30 Uhr (WH)
3sat Donnerstag (ca. 14-tägig im Wechsel mit "Stolperstein" und "Aus anderer Sicht")
Impressum:
Bayerischer Rundfunk, 80300 München;
Redaktion Sprachen / SEHEN STATT HÖREN
Tel.: 089 / 3806 – 5808, Fax: 089 / 3806 – 7691,
E-MAIL: sehenstatthoeren@br-mail.de
Redaktion: Francine Gaudray, Bayer. Rundfunk, Ó BR 2001 in Co-Produktion mit WDR
Herausgeber: Deutsche Gesellschaft zur Förderung der Gehörlosen und Schwerhörigen e. V.
Paradeplatz 3, 24768 Rendsburg, Tel./S-Tel.: 04331/589722, Fax: 04331-589745
Einzel-Exemplar: 2,85 DM