LogOut - Warum Computer nichts im Klassenzimmer zu suchen haben...

So hat Clifford Stoll sein neuestes Werk mit "Hightech-Ketzereien" betitelt. Einer, der es wissen muss, da er zu den Pionieren des Computereinsatzes und des Internets gehört, warnt vor überzogener Technikgläubigkeit und Euphorie. Ob das auch für Hörgeschädigte gilt? Meine Antwort können Sie sich sicherlich schon denken. Nicht sonderlich spannend. Auf die Begründung kommt es allerdings an. Und um die besser verstehen zu können, muss man einen Einblick gewinnen in den momentanen Stand der Dinge. Ich beschränke mich hier auf das Internet. Als einer der Webmaster von http://www.taubenschlag.de surfe ich seit Jahren täglich im Internet, besonders auf den deaf sites, den Seiten von Hörgeschädigten bzw. für Hörgeschädigte. In dieser Zeit ließen sich einige Tendenzen beobachten, und davon lassen sich Zielvorstellungen und Prognosen ableiten.

Kommunikation

Hörschädigung ist vorrangig eine kommunikative Behinderung. Für die Beseitigung dieser Behinderung ist quasi "jedes Mittel recht". Was anfangs noch ein wenig exotisch wirkte, die Kommunikation über das Internet, ist heute zu einer Selbstverständlichkeit geworden. Früher (und damit ist die "Vor-Internet-Zeit" gemeint) haben Lehrer ihre ehemaligen Schüler üblicherweise nach vielen Jahren bei Klassentreffen wiedergesehen. Heute "sehe" ich viele meiner ehemaligen SchülerInnen täglich. Sie berichten mir private Dinge, fragen mich um Rat, können mir mal eben einen Zeitungsartikel "rüberreichen", in dem von ihrem erfolgreichen Auftritt als VHS-Dozent die Rede ist - kurzum, man redet über "Gott und die Welt". Vor allem aber: Man hält Kontakt. Was so früher sicherlich nicht möglich gewesen wäre. Dabei ist es gleichgültig, an welches Ende der Welt es die Ehemaligen inzwischen verschlagen hat. Das gleiche gilt für die Zusammenarbeit von Teams wie dem des Taubenschlags. Ob ein Teammitglied nun in Madrid, Philadelphia, Luxemburg oder Bremen sitzt - man ist ständig auf Tuchfühlung, kann gemeinsam an Texten oder Grafiken arbeiten, und das alles in "Echtzeit", d.h. ohne Verzögerung. Und ob man nun gehörlos, schwerhörig oder hörend ist, spielt dabei keine Rolle. Diese direkte und simultane Kommunikation wird abgewickelt über Programme wie ICQ, AIM oder MSN Messenger. Sie sind kostenlos, und auch bei weltweiten Kontakten fallen nur die Online-Gebühren an. Diese Programme sind, neben den Faxen, weitgehend an die Stelle des Schreibtelefons getreten. Ob sie das ST ersetzen können oder sollten, ist eine andere Frage. Allerdings gibt es bei Versuchen mit Relay Services (Telefon-Vermittlungsdiensten) erste Anzeichen dafür, dass selbst Telefongespräche von Gehörlosen mit Hörenden über das Internet durchgeführt werden können. Wie dieser Anwendungsbereich sich entwickeln wird, ist noch nicht zu prophezeien. Man braucht aber kein Prophet zu sein, um festzustellen, dass die Online-Kommunikation im Leben vieler Hörgeschädigter fest verankert ist und einen sehr hohen Stellenwert hat und dass sie mit Sicherheit bald für jedermann eine Selbstverständlichkeit sein wird. In einem solchen Online-Gespräch äußerte eine 17jährige gehörlose Schülerin: "Ohne Compi, kann ich nicht weiter leben...."

Während Gespräche mit Messenger-Programmen zumeist zielgerichtet sind, ähneln Chats eher gemütlichen Zusammenkünften in der Stammkneipe. Was nicht abwertend gemeint ist. Auch die Stammkneipe trägt zur Lebensqualität bei, genauso wie Netzwerkspiele, die entweder per Vernetzung von Rechnern oder im Internet durchgeführt werden. Newsgroups laufen über News-Server. Die Gruppen sind nach Themen geordnet. Jedermann kann alle Nachrichten, Anfragen usw. lesen und Antworten abschicken. Sie haben sich allerdings, im Gegensatz zu den USA, in Deutschland unter den Hörgeschädigten noch nicht durchsetzen können. Mailing-Listen, die ebenfalls thematisch orientiert sind, sind Gruppen zumeist fest eingetragener Mitglieder. Jedes Mitglied erhält per Email wie eine Postwurfsendung die Mails der anderen Mitglieder. Solche Listen laufen auf internationaler Ebene (z.B. deaf2L - Liste von Wissenschaftlern zur bilingualen Kommunikation Gehörloser) sehr gut, unter deutschen Hörgeschädigten "dümpeln" sie eher dahin.

Emails bilden nach wie vor das Rückgrat der Kommunikation im Internet. Sie sind nicht nur bequen und billig, sondern auch unschlagbar schnell. Genauso wie in der Wirtschaft erfolgt auch unter Hörgeschädigten schriftliche "asynchrone" Kommunikation per Mail. Dieser Bereich ist inzwischen zu einer Selbstverständlichkeit geworden und braucht nicht näher dargestellt zu werden.

Diskussionsforen erfreuen sich großer Beliebtheit. Dort geäußerte Meinungen werden automatisch auf Internetseiten veröffentlicht, sind fur jeden zugänglich, und jeder kann seine Meinung dazu schreiben. Dieser öffentliche Meinungsaustausch hat Vor- und Nachteile. Man kann - die meisten tun dies unerkannt unter Pseudonym - offen seine Meinung schreiben. Man kann Erfahrungen austauschen, über Dinge sprechen, die man ansonsten besser verschwiegen hätte. Und genau da taucht dann die Problematik auf, dass nämlich viele meinen, unter Pseudonym einmal so richtig "die Sau rauslassen" zu können. Kommunikation unter Pseudonym folgt offensichtlich anderen Regeln als die in der realen Welt. Da Software für Foren mittlerweile gratis erhältlich ist, kann theoretisch jeder sein eigenes Forum eröffnen. Eine Inflation von Foren hat bereits stattgefunden. Wer soll aber in dieser unübersichtlichen Vielzahl von Foren noch schreiben? In manchen Foren tut sich nicht viel, und einige sind auch schon wieder geschlossen worden. Ein ganz anderes Problem ist aber das der Öffentlichkeit. Jeder, also auch unvorbelastete Hörende, kann Einblicke gewinnen in die Welt der Hörgeschädigten, und die sind durchaus nicht immer positiv. Da werden sprachliche Kompetenz, aber auch oft Defizite im Wissen und Feindseligkeiten für alle sichtbar. Eine Form der "Öffentlichkeitsarbeit", die nicht gerade zur Imagebildung für Hörgeschädigte beiträgt. Allerdings muss man hier differenzieren. In vielen Foren bildet sich ein Stamm von Teilnhmern heraus. Es entwickelt sich so etwas wie eine "geschlossene Gesellschaft" (obwohl sie für Neuzugänge natürlich offen ist), in der die Teilnehmer einander kennen. Und entsprechend dem Bildungsstand und der Interessenlage der Teilnehmer pendelt sich das Niveau der Foren ein. So gibt es ausgesprochene "Intellektuellen"-Foren, Foren für den small talk, Foren von Jugendlichen, von Schwerhörigen usw. Und in manchen Foren gibt es auch echte Lebenshilfe und Beratung. Foren mit der Funktionalität von Selbsthilfegruppen also.



Themen mit Niveau im Forum "deaf pride" bei www.gehoerlose.de

Information

Das weltweite Netz (WWW) ist völlig unübersichtlich und chaotisch. Trotzdem finden Hörgeschädigte sich gut zurecht, und das, obwohl die Zahl der deaf sites ständig wächst. Mittlerweile hat fast jeder Verband und jede Organisation eine eigene Website, und auch bei Privatpersonen gehört eine eigene Homepage inzwischen zum Alltag. Die Frage ist nicht mehr, OB man eine Internetpräsenz hat, sondern WIE sie gestaltet ist, welche Informationen sie vermittelt und wie oft sie besucht wird.

Website der Deutschen Gesellschaft zur Förderung der Gehörlosen und Schwerhörigen

Ein gutes Beispiel für ansehnliche Gestaltung und informative Inhalte ist die neue Website der Deutschen Gesellschaft

1995 schrieb die amerikanische Internet-Pionierin Jolanta Lapiak:
"I feel that Internet/WWW is a great part of life for deaf people. Probably, TV/closed captioning brought deaf people apart in some way, but Internet might bring them back together...WWW is like a bulletin board providing information for the deaf community/people and also is like a multimedia "book" or whatever form of information for deaf people anywhere around the world."

(Ich glaube, das Internet ist ein großartiger Bestandteil des Lebens Hörgeschädigter geworden. Fernsehen und Untertitel haben die Hörgeschädigten irgendwie auseinander gebracht, aber das Internet könnte sie wieder zusammen bringen. Das WWW ist wie ein Schwarzes Brett für die Gemeinschaft der Hörgeschädigten oder wie ein Multimedia-"Buch" oder irgendeine andere Form der Information für Hörgeschädigte auf der ganzen Welt.)

Damit hatte Jolanta Lapiak rundum recht. Da das Internet ein interaktives Medium ist, hat es die Hörgeschädigten international zusammengeführt - was einem Medium wie dem Fernsehen natürlich nicht möglich ist. Merkwürdig, da lamentieren viele Kritiker, Computer und Internet würden zur Vereinsamung der Menschen führen, und eine Gehörlose konstatiert das Gegenteil. Nun ist die vor 6 Jahren geschriebene Äußerung in "Internet-Zeitrechnung" eine Ewigkeit her, und inzwischen hat sich einiges getan. Jolanta hatte die weltweit bekannteste und informativste deaf site gegründet und über Jahre betrieben: (http://www.deafworldweb.org/). Sie bot weltumfassende Informationen über die deaf communities. Ruft man die Seite heute auf, bekommt man nur die Information, dass die Website ihren Betrieb eingestellt hat: "Deaf World Web is discontinued as of January 31st, 2001. Sorry for the inconvenience."

Im Internet gibt es ein ständiges Kommen und Gehen. Neue Websites sprießen aus dem Boden, andere verschwinden sang- und klanglos. Deutsche deaf sites der ersten Stunde wie www.hoerbehinderten-info.de existieren längst nicht mehr. Selbst www.gehoerlos.de, die allererste deutsche deaf site, die anfangs umfangreiche Informationen bot, ist zu einer einzigen Seite mit einer Linksammlung geschrumpft. Auch der shooting star www.planetdeaf.de, eine Zeitlang DER Hit unter den jungen Hörgeschädigten, ist zu einer Website für Parties und Sportberichte herabgesunken und hat das ursprünglich umfangreiche redaktionelle Angebot total aufgegeben. Die Gründe für das Site-Sterben sind vielschichtig. Anfangs gab es sicherlich die Vorstellung, man könne eine alles umfassende Site quasi mit Monopolstellung installieren und davon per Werbung dann seinen Lebensunterhalt bestreiten. Das hat sich sehr schnell als Irrtum herausgestellt. Ein anderer Grund ist die Zugänglichkeit für jeden. Für relativ wenig Geld kann sich heute jeder eine eigene Domain einrichten und eine Website betreiben. Die anfängliche Euphorie, dass jeder, der will, auch kann, führte sehr bald zu der ernüchternden Erkenntnis, dass eine Website gepflegt werden muss, und zwar täglich. Ähnlich wie bei einem Kind die Begeisterung für das Haustier abebbt, wenn es täglich versorgt und gepflegt werden muss, lässt auch die Begeisterung vieler Webmaster nach, wenn sie erst einmal bemerken, wieviel Arbeit mit einer Website verbunden ist. Eine Website ist letztlich vergleichbar mit einer Zeitschrift oder einer regelmäßigen Fernsehsendung. Dafür braucht man halt Personal. Die Tendenz wird voraussichtlich also dahin gehen, dass eine Professionalisierung einsetzen wird. Und die kostet dann natürlich auch etwas. Das werden manche Verbände sicherlich schon bemerkt haben.

Aber kommen wir zum Inhaltlichen. Websites vermitteln Informationen. Auch das ein Bereich, von dem Hörgeschädigte oftmals ausgeschlossen waren. Wieder also eine kompensatorische Funktion des Internets. "Wissen ist Macht" ist zwar banal, aber dennoch sehr wahr. Aufgrund mangelnder Informationen und mangelnder Bildung waren Hörgeschädigte oft zu einer sozialen Randexistenz verurteilt. "Der Gehörlose ist immer der Letzte, der es erfährt!" Dieser Satz sollte der Vergangenheit angehören. Und genau dazu trägt das Internet bei. Textbasiertheit, weltweite Erreichbarkeit und vor allem die unübertroffene Geschwindigkeit machen das Internet zu einem Medium, das Hörgeschädigten in bezug auf Informationen ein Stück mehr Chancengleichheit verschafft. Sämtliche Websites sind für Hörgeschädigte genauso erreichbar wie für Hörende. Dies trifft genauso zu für Informationen aus der "deaf community", also aus der "Welt der Hörgeschädigten". Im Vergleich zu den herkömmlichen Printmedien, aber auch zum Fernsehen, ist das Internet unschlagbar schnell. So konnten wir z.B. direkt von den Kulturtagen der Gehörlosen in München im Taubenschlag berichten, während sowohl im Fernsehen als auch in den Gehörlosenzeitschriften erst Wochen danach berichtet wurde. Wobei klar ist, dass Form und Inhalte der Berichte unterschiedlich sind und kein Medium das andere überflüssig macht. Nur in bezug auf die Aktualität sind Internet-Websites halt immer vorneweg.

SCHLAGinstrumente

Hörgeschädigte wurden früher oft als Objekte behandelt, Objekte pädagogischer Bemühungen oder karitativer Veranstaltungen. Man sprach gerne über sie, seltener mit ihnen. Fachleute sprachen auch gerne an ihnen vorbei, ohne ihre Reaktion auch nur zu bedenken. Spätestens mit dem Internet sind diese Zeiten vorbei. Informationen, die sonst nie das Licht der Öffentlichkeit erblickt hätten, weil die Herausgeber von Printmedien sich nicht getraut hätten, sie zu veröffentlichen, können jetzt von jedermann veröffentlicht werden. Natürlich ist das auch ein Risiko, und natürlich besteht die Gefahr, jemanden ungerechtfertigt an den Pranger zu stellen. Dieser Verantwortung müssen sich Betreiber von Websites sehr wohl bewusst sein. Wenn jedoch offensichtliche Diskriminierungen, womöglich von Ärztefunktionären oder Schuldirektoren, veröffentlicht werden, zeigt das Wirkung.

Tatort

gelöscht !

Viele Besucher haben uns gemailt oder auch angerufen: "Wo ist der Casting-Bericht?"

An dieser Stelle hatten wir den Hinweis auf eine Email, in der die Meinung vertreten wurde:

In Zukunft wird es nur noch mehrfachbehinderte Gehörlose geben, und Dolmetscher können eh besser gebärden als die Gehörlosen selbst. Vorschlag deshalb: Dolmetscher spielen die Rollen von Gehörlosen.

Der Schreiber dieser Email hat unter Berufung auf sein Persönlichkeitsrecht und unter Androhung der Einschaltung eines Rechtsanwalts die Löschung seiner Email verlangt. Juristisch gesehen hat er wahrscheinlich recht. Da wir ohnehin noch einen anderen Rechtsstreit austragen müssen und sämtliche Kosten dafür privat tragen, sind wir dem Wunsch des Herrn nachgekommen.

Bleibt festzuhalten: Die Formulierungen in besagter Email haben bei vielen Hörgeschädigten Empörung ausgelöst. Es wäre zu wünschen, dass der Autor selber Stellung bezieht bzw. - wenn es sich um ein Missverständnis handeln sollte - eine Richtigstellung vornimmt.

Heute (31.08.01) erhielten wir die Kopie eines Schreibens von Herrn J. an die Casting-Firma.

Ein kleines Beispiel zur politischen Wirksamkeit von Internetaktionen: Der Direktor einer deutschen Hörgeschädigtenschule hatte in einer Email an eine Castingfirma, die Gehörlose für eine Filmproduktion suchte, geäußert, es gebe aufgrund der medizinischen Fortschritte und der lautsprachlichen Unterrichtsmethode nur noch wenige gebärdensprachkompetente Gehörlose. Aus diesem Grunde sei es zu empfehlen, dass Dolmetscher die Rollen der Gehörlosen spielen. Diese Email haben wir im Taubenschlag veröffentlicht, und unter den Gehörlosen brach ein Sturm der Entrüstung los. In den verschiedenen Diskussionsforen wurde heiß diskutiert, Protestbriefe wurden an den Direktor selbst, an Presse, Rundfunksender und Gehörlosenverbände geschickt. Inzwischen hat dieser Direktor sich für seine Äußerungen entschuldigt.

Auch wenn Krankenkassen die Kosten für einen Lichtwecker nicht übernehmen wollen, kontraproduktive Aktionen von Hörgeschädigten gestartet werden oder neonazistische Parolen in Foren auftauchen - die Veröffentlichung auf einer vielbesuchten Website ist ein Instrument, um nicht zu sagen eine Waffe, die verantwortungsbewusst eingesetzt Dinge bewegen kann. Bewegt wird auch etwas, wenn z.B. auf Entwicklungen in der deaf world, d.h. in der Hörgeschädigtenszene auf internationaler Ebene hingewiesen wird. Oftmals kann der Blick "über den Tellerrand" andere Perspektiven vermitteln. Kaum zu glauben, dass es an der Gallaudet University einen gehörlosen Präsidenten gibt, und dass der Kampf für den "Deaf president now" bereits 10 Jahre zurück liegt. Höchst interessant, das alles im Internet nachzulesen. Und es schärft und stärkt das eigene Selbstbewusstsein als Hörgeschädigter. "Deaf awareness" halt! Oder dass seit 10 Jahren eine "gebarentram" (Gebärdenstraßenbahn) durch Amsterdam fährt. Und in den USA werden die ersten Versuche mit einem Telefonvermittlungsdienst per Internet gemacht. Da kann es doch passieren, dass Leute eines deutschen Call Centers das lesen, sich melden und verkünden: "Das können wir auch!" Und dann wird halt erst einmal mit einfachen Mitteln ein Versuch gestartet - der zur Zeit noch läuft und hoffentlich zu einer dauerhaften Institutionalisierung führt. Angeregt, wie gesagt, durch eine Notiz im Taubenschlag.

WORLDCOM global relay
Telefon-Vermittlungsdienst per Internet

Wie können Gehörlose mit Hörenden telefonieren - wenn die Hörenden kein Schreibtelefon haben? Na, über einen Vermittlungsdienst natürlich. Die Schweizer haben es, die Holländer (s.u.) - und die Amerikaner haben es jetzt sogar per Internet. Es fallen dabei nur die Internetkosten an und KEINE Telefongebühren. Wer also (auf Englisch natürlich) mit einem hörenden Freund in den USA telefonieren will, kann das jetzt - wie mit einem Schreibtelefon - über das Internet tun. Wie gesagt: KOSTENLOS!

Wäre das nicht eine Anregung für die Gehörlosen im deutschsprachigen Raum? Mal sehen, ob die Schweizer wieder schneller sind als die Deutschen :-)


Ein "Blick über den Tellerrand", der Wirkung gezeigt hat - in der Rubrik "deaf world" im Taubenschlag.

Manche dieser Aktionen mögen an die Boulevardpresse mit reißerischen Schlagzeilen, die womöglich unter die Gürtellinie zielen, erinnern. Oder an Aktionen wie "BLÖD hilft". Eine Website wie der Taubenschlag lässt sich jedoch nicht einfach bei der "yellow press" einordnen. Die SCHLAGkraft des TaubenSCHLAGs ist nur einer von vielen Aspekten. Tägliche Presseauszüge, kostenlose persönliche Anzeigen, ein umfangreiches Adressbuch (http://www.deafbase.de), Informationen aus dem Gesundheitssektor, Hinweise auf Fernsehsendungen, wissenschaftliche Artikel, eine Sammlung von Diplomarbeiten, Kommentare und Rezensionen, Texte von Sehen statt Hören usw. usw. bilden ein so umfangreiches Informationsangebot, dass die Bezeichnung "Portal für Hörgeschädigte" wohl ihre Berechtigung hat. Obwohl wir den Taubenschlag mit einem Team von einem Dutzend Mitarbeitern betreiben, stoßen wir bei unserer hobbymäßigen Arbeit jedoch an die Grenzen des Machbaren. Auf Dauer ist eine Professionalisierung wohl unvermeidbar. Die selbst gewählten Aufgaben sind einfach zu umfangreich.

Da komme ich dann wieder an den Anfang zurück, zur Ernüchterung nach der anfänglichen Euphorie und zur Schließung vieler deaf sites. Wenn auch Professionalisierung und damit finanzielle und personelle Absicherung erforderlich sind, so bleiben Offenheit, Freiheit und Spontaneität doch unverzichtbare Eigenarten des Internets. Nicht nur etablierte Websites haben ihren festen Platz, es muss auch immer Platz geben für Newcomer und jugendliche Stürmer und Dränger, die wie auf www.bengie.net verkünden:

"Wir sind aufgewacht!
Die Welt ist unser, das Land ist unser, die Gesellschaft ist unser.
Wenn wir nicht reden, wer dann? Wenn wir nicht handeln, wer sonst? WEnn wir uns nicht erheben und kämpfen, wer dann?
Unser gehörlose Volk verfügt über grosse innere Kraft. Je härter die Unterdrückung, desto heftiger sein Widerstand; was sich lange zeit hindurch angesammelt hat, wird gewiß rasch hervorbrechen."

Diese Revolution wird seit Monaten verkündet, hat aber noch nicht stattgefunden und wird es wohl auch nicht. Das Internet funktioniert nach den Regeln der freien Marktwirtschaft. Nur wer etwas Lesenswertes zu bieten hat, kann auch mit Besuchern rechnen. Aber auch wenn bengie.net mehr Besucher hätte, würden wahrscheinlich die wenigsten Besucher dem Aufruf folgen. Insofern hat das Internet Ähnlichkeit mit der Speakers' Corner im Londoner Hydepark. Statt der Kiste, auf die sich der Redner stellt, dient halt die Website zur Verkündung der eigenen Meinung. Aber die frei und unbehindert äußern zu dürfen ist der springende Punkt!

Imagebildung

Es war schon öfter die Rede von "deaf sites" oder "Websites von Hörgeschädigten". Haben Sie jemals etwas von "hearing sites" gehört? Alle Websites außer denen von oder für Hörgeschädigte sind zwangsläufig "hearing sites". Ein Begriff, denn es nicht gibt, weil er eine Selbstverständlichkeit kennzeichnen würde. "Deaf sites" dagegen erregen Aufmerksamkeit. Exotik halt, die neugierig macht. Und viele Besucher, die sonst nie etwas mit Hörgeschädigten zu tun haben, "kommen vorbei" und schauen einfach mal rein. Jede deaf site steht also repräsentativ für die Hörgeschädigten im allgemeinen. Jede trägt zum Image der Hörgeschädigten bei. Da ist es dann schon wichtig, welche Inhalte in welcher Form angeboten werden. Und es ergibt sich die Frage, ob deaf sites sprachlich korrekt sein sollten. Unvorbelastete Hörende setzen Rechtschreib- und Grammatikfehler oft mit Dummheit gleich. Aber gerade die sprachliche Unvollkommenheit ist ja ein Aspekt der Behinderung "Hörschädigung". Soll man sie verbergen oder selbstbewusst dazu stehen? Eine Frage, die nur angerissen, hier aber nicht beantwortet werden kann.



"I am proud to be deaf" - und dazu gehören auch die Einschränkungen in der Schriftsprache?
Oder doch besser korrigieren, um dem Image Hörgeschädigter nicht zu schaden?

Lernen im Internet

Ob das Internet da Abhilfe schaffen kann? Ein auf Schriftsprache beruhendes Medium müsste doch permanent mit Sprache berieseln. Wenn viele Hörgeschädigte sonst kein Buch in die Hand nehmen - im Internet lesen sie zwangsläufig. Leider wird das Lernen wohl nicht automatisch erfolgen. Im Gegenteil, machmal kann man im Internet verfolgen, dass sich Fehler geradezu wie Computerviren verbreiten. "Ich möchte mit dir kennenlernen" oder "gril" statt "girl" schleifen sich durch häufige Benutzung ein. Wenn, dann müsste gezielt gelernt werden. Dazu bräuchte man entsprechende Materialien, und um die zu erstellen die Lehrer. Software gibt es genug, Lehrer und Geld für die Erstellung von Online-Lernprogrammen leider (immer noch) nicht. Auf unserer Website www.deafkids.de haben wir einige Beispiele aufgezeigt, wie man vorgehen könnte. Aber unabhängig davon - wer sucht, der wird auch finden, d.h. wer den unbändigen Willen hat, im Internet etwas zu lernen, kann auch heute schon viele Gelegenheiten dazu finden. Seiten allerdings, die nicht speziell für Hörgeschädigte, sondern für Hörende erstellt wurden.

Perspektiven

In den letzten Jahren war ein stetiger Zuwachs der hörgeschädigten Internetnutzer zu beobachten. War die Internetnutzung anfangs noch eine Besonderheit, so ist sie mittlerweile zu einer Selbstverständlichkeit geworden. Die Verhältnisse dürften sich umgekehrt haben. Wer hat heute schon keine Email-Adresse? Und welcher Verein hat nicht seine eigene Website?

Das Internet spiegelt logischerweise die reale Welt wider. Wenn es im "wirklichen Leben" unterschiedliche Interessen und gegensätzliche Meinungen gibt, dann natürlich auch im Internet. Der sogenannte Methodenstreit findet auch im Internet statt. Es gibt auch hier eine Spaltung der Welten, Seiten für Hörgerichtete und CI-Befürworter und auf der anderen Seite Websites der Bilingualen. Auch hier spielt sich das ab, was auch sonst stattfindet: Eine Fraktion bemüht sich um Toleranz, Flexibilität und Offenheit nach allen Seiten, während die andere geradezu sektiererhaft jede abweichende Meinung aussperrt. Versuchen Sie einmal, auf einer "hörgerichteten Website" einen Artikel über den Einsatz von Gebärden zu veröffentlichen! Sie werden wahrscheinlich nicht einmal eine Antwort auf Ihre Email erhalten. Da der Methodenstreit bereits seit ca. 200 Jahren tobt, wird wohl auch das Internet an dieser Konfrontation nichts ändern können. Allerdings haben Eltern hörgeschädigter Kinder durch das Internet die Möglichkeit, sich nach allen Seiten hin zu informieren. Das hat es in diesem Umfang früher nicht gegeben.

Da für viele Hörgeschädigte die Schriftsprache noch ein Hindernis darstellt, ergibt sich die Frage nach einer anderen Kommunikationsform. Mit schnellen Internetverbindungen wie DSL rückt diese Option zwar in greifbare Nähe. Gleichzeitig stellt sich aber die Frage, ob solch eine "Insellösung" wirklich sinnvoll und wünschenswert ist. Den Zugang zu Informationen in der Welt des Internets bietet nur die Schriftsprache. Andererseits ist darauf zu achten, dass der Zugang per Schriftsprache nicht durch die Einführung von soundbasierten Websites verdrängt wird. Als positives Beispiel kann hier www.tagesschau.de genannt werden. Die Tagesschau wird zwar schon im Fernsehen untertitelt, zusätzlich werden aber auch alle Beiträge ins Internet gestellt - sowohl als Filme (im RealVideo-Format, also auch mit Ton), als auch die kompletten Texte zum Nachlesen. Diese Mehrgleisigkeit der Informationsvermittlung muss erhalten bleiben. Darauf sollten Hörgeschädigte achten, und darauf sollten sie bestehen. Eine Untertitelung von RealVideo-Filmen ist allerdings auch möglich. Um eine ähnliche (Fehl-)Entwicklung wie beim Wechsel von Stumm- zu Tonfilmen zu vermeiden, sollten Hörgeschädigte ständig auf der Hut sein.

Website der Tagesschau

Vorbildlich: die Website der Tagesschau. Die Meldung kann sowohl als Video als auch in Textform abgerufen werden. Optimal für Hörgeschädigte.

Clifford Stolls Frage nach dem Sinn des Computer- und Interneteinsatzes mag berechtigt sein - bei Hörenden! Für Hörgeschädigte wird sich diese Sinnfrage NIE stellen. Zu groß ist der Nutzen, den sie aus dem Internet ziehen. Computer und Internet tragen in ungeahntem Maße dazu bei, Defizite zu kompensieren. Hörgeschädigten sind Informationsquellen eröffnet, und zwar weltweit, von denen vor wenigen Jahren niemand zu träumen gewagt hätte. Durch Emails, Newsgroups, Diskussionsforen und Messenger-Programme wie ICQ ist die weltweite Kommunikation Gehörloser untereinander, aber auch mit dem "Rest der Welt", möglich. Hörgeschädigte können sich mit Homepages bzw. Websites in der Öffentlichkeit präsentieren und ihre politischen Interessen vertreten. Und - was für hörgeschädigte Kinder und ihre Eltern und Lehrer besonders wichtig sein dürfte - es zeichnen sich Perspektiven für den Wissenserwerb ab, von denen bisher nur andeutungsweise Gebrauch gemacht wird und die deshalb eine Herausforderung für alle an Bildung und Erziehung hörgeschädigter Kinder Beteiligten darstellen. Die sinnvolle Nutzung des Internets muss zwar gelernt werden, aber nicht nach Lehrplan und systematisch. Das "Surfen" im Internet ist nach wie vor etwas Lustvolles und Hochmotivierendes. Das sollte es auch bleiben!

Bernd Rehling
rehling@taubenschlag.de

Diesen Artikel finden Sie im Internet unter http://www.taubenschlag.de/power/log_out/log_out.html - dort natürlich mit allen links.