Nach Jules Auftritt in "log in" (s.u.) gab es einige unschöne Anmerkungen, die sich auf ihre Stimme bzw. die Art der Kommunikation bezogen. Jule hat daraufhin ihren Twitter-Account eingefroren und angekündigt, dass sie "vielleicht" von ihrer Kandidatur zurücktreten werde. Hunderte von Followern haben sie daraufhin ermuntert, doch weiterzumachen. Der Bundesvorstand der Piratenpartei Deutschland und der Landesvorstand der Piratenpartei Baden-Württemberg haben sie mit einem Statement unterstützt, und sogar in der Presse wurde über Jules Reaktion berichtet.
In Jules Blog:
Die andere Seite der Medaille
Im Portal des Bundesvorstands der Piratenpartei:
Statement zur öffentlichen Diskriminierung von Julia Probst
(@EinAugenschmaus)
DER TAGESSPIEGEL:
Twitter tut weh - Piratin wirft nach TV-Auftritt hin
Im Piraten-Portal: Ein dickes Fell für
@EinAugenschmaus
Darüber brauchen wir nicht zu reden und zu streiten, weil es selbstverständlich ist:
- Es gibt die verschiedensten Arten von Hörschädigungen.
- Die kommunikativen Fähigkeiten und Bedürfnisse Hörgeschädigter sind sehr unterschiedlich.
- Jeder Hörgeschädigte hat das Recht, so zu kommunizieren, wie er kann und möchte.
Alles kein Thema! ABER...
... lautsprachliche Kommunikation ist nicht nur die sachliche
Übermittlung von Informationen, sondern sie übermittelt auch
Gefühle. "Der Ton macht die Musik!" Etwas, was die ollen Oralisten
völlig außer Acht gelassen haben. Hörende können ein und denselben
Satz auf zig verschiedene Arten betonen, und er bekommt damit
völlig verschiedene Bedeutungen. Genau das können Gehörlose nicht!
Ihre Stimme klingt monoton, automatenhaft, emotional eher
abschreckend für Hörende. Das kann auch kein Logopäde ausbügeln.
Die Lautbildung selbst ist für Hörgeschädigte schon schwer genug,
sie so zu modulieren, dass sie auch noch Emotionen transportiert,
geradezu unmöglich. Davon haben schon viele Gehörlose berichtet:
"Da habe ich mich nun jahrelang mit der Artikulation abgequält,
alle haben mir gesagt: 'Du sprichst aber supertoll!' - und jetzt
komme ich trotzdem mit Hörenden nur mühsam zurecht." Und irgendwo
in der Literatur hab ich mal gelesen: "Bevor ich von den anderen
als 'heulender Coyote' empfunden werde, schweige ich lieber und
kommuniziere mit Zettelchen."
Jules Muttersprache ist Deutsch, die Lautsprache. Damit ist sie in
der Regelschule, in der Familie, im Freundeskreis, im Berufsleben
prima zurecht gekommen. NICHTS dagegen zu sagen, wenn sie ihre
bevorzugte Kommunikationsform benutzt. ABER ein öffentlicher
Auftritt in Fernsehen oder auf der politischen Bühne ist etwas
Besonderes. Jule hat sich für den Einsatz einer Dolmetscherin
entschieden. Wunderbar! Diese Form des Dolmetschens war allerdings
sehr ungewöhnlich. Da Jules Stimme selbst für "Geübte" kaum
verständlich war, musste die Dolmetscherin alles wiederholen.
"Asynchrones Dolmetschen" - das war ein Novum! Zuerst Jules Stimme,
die für viele Hörende sicherlich befremdlich klang, und dann alles
noch einmal, mit Zeitverzögerung, von der Dolmetscherin.
Normalerweise werden Dolmis bewundert, weil sie so elegant und vor
allem auch simultan Gebärden in Lautsprache umsetzen können. Das
Dolmetschen für Jule musste dagegen einen "sprachbehinderten"
Eindruck machen. Wenn man sich jetzt eine Rede im Bundestag
vorstellt, erst schwer verständlich von Jule gesprochen, dann vom
Dolmi zeitverzögert wiederholt - das dürfte wohl problematisch
werden.
Sicherlich waren einige getwitterte Kommentare nicht gerade
feinfühlig und unter der Gürtellinie. Verständlich, dass Jule
gekränkt ist. Wenn man aber die Fehlgriffe im Ton abzieht, bleibt
die Kritik an der Form der Kommunikation. Dafür eine Lösung zu
finden ist nicht so ganz einfach. Mit Sicherheit ist es nicht mit
dem Auskurieren der Ekältung oder dem Einsatz eines Logopäden
getan. Und einen Gebärdenintensivkurs kann man auch nicht mal eben
auf die Schnelle absolvieren. Ehrlich gesagt bin ich da auch
ratlos.
Dass nun hunderte von hörenden Followern Jule beknien, nicht alles
hinzuschmeißen, ist tröstlich für Jule, hilft aber leider auch
nicht weiter. Und die Unterstützung durch die Piratenpartei ist
zwar löblich, löst aber auch nicht das Problem. Eine gehörlose
Bundestagsabgeordnete - das wäre zu schön gewesen!
Ihren Twitter-Account hat Jule inzwischen reaktiviert. Da wird sie
wohl auch als Piraten-Kandidatin an Bord bleiben. ;-) Hoffen wir es
mal!