Schwerhörige sind anders als Gehörlose. Eine Binsenweisheit, sicher! Bei Gehörlosen sind die Verhältnisse klar: Sie hören nichts, oder so gut wie nichts. Schwerhörige dagegen hören etwas, wieviel auch immer, und fühlen sich daher mehr zu den Hörenden hingezogen. Bei denen sind sie kommunikativ aber auch oft ausgeschlossen oder Randfiguren. Sie gehören also weder zu den Gehörlosen noch zu den Hörenden. Ein Leben zwischen den Welten, gewissermaßen im Niemandsland, oder um Tucholsky zu zitieren: "Hier ein Stuhl und da ein Stuhl, und wir immer dazwischen."
Kann man von einem schwerhörigen Psychologen verlangen, anders zu sein? Auch wenn er als oberstes Ziel für seine Arbeit den "bewussteren Umgang mit der eigenen Hörschädigung" propagiert? Ein schwerhöriger Psychologe ist auch nur ein Mensch - und zwar ein SCHWERHÖRIGER! Was Deaf-Power-Aktivisten befremdlich erscheint, nämlich die Trauerarbeit, gehört bei einem Schwerhörigen - auch wenn er Psychologe ist - dazu. Schwerhörige empfinden den Hörverlust eben als Verlust. Und ein Verlust verursacht Trauer.
Insofern ist Oliver Rien für Schwerhörige ein durchaus glaubwürdiges Rollenvorbild. Er ist Betroffener, nicht nur in Bezug auf die Schwerhörigkeit, sondern auch in Bezug auf die psychosoziale Situation. Seine Arbeit mit hörgeschädigten Jugendlichen ist zweifellos sehr sinnvoll, wichtig und auch erfolgreich. Das Buch, das er dazu geschrieben hat, ist allerdings nicht so ganz einfach zu lesen. Man wünschte sich, die wesentlichen Aussagen wären klarer, strukturierter und in kompakter Form dargestellt. Für die Zielgruppen der Ambulanzlehrer und Eltern gibt es wertvolle Anregungen, neben der Trauerarbeit vor allem den Einsatz von TZI, des "Inneren Teams" und von "Meine vielen Gesichter". Von vorn bis hinten durchlesen ist aber recht mühsam bei diesem Buch. Man muss sich die Informationen schon "herauspicken" und ansonsten diagonal lesen.