(Computer-) Power to the Deaf - Teil 8
(wird veröffentlicht in hörgeschädigte kinder 1/99)

Gebärden-CD-ROMs im Vergleichstest
DGS-CDs von DESIRE (Microbooks) der RWTH Aachen
EDV-gestütztes Lexikon der vereinfachten Gebärden für mehrfachbehinderte gehörlose Menschen in der WfB, Teil 1 und 2
777 Gebärden
Gebärdenlexikon (hk)
tabellarische Übersicht

Schon in vergangenen Jahrhunderten wurden Gebärden zeichnerisch dargestellt. Vor etwa zwei Jahrzehnten folgten dann Gebärdenbücher mit Fotos. Diese zweidimensionale und statische Darstellungsweise wird der Dynamik der Gebärdensprache nicht gerecht, und die Ergänzung durch Pfeile oder Texthinweise für den Bewegungsablauf war nur ein Notbehelf. Videos waren im Vergleich dazu schon ein Riesenfortschritt. Allerdings waren lexikonmäßige Funktionen wie das schnelle Nachschlagen von Begriffen durch lange Vor- und Rückspulzeiten stark behindert.

Die "einzig wahre" Technologie ist deshalb die digitale Aufzeichnung und die Wiedergabe über einen Rechner. Gebärden auf CD-ROMs haben folgende Vorteile:

Diese immensen Vorteile sind von "Produzenten" sehr schnell erkannt worden. Herrschte in bezug auf Gebärdenbücher und -videos ein recht karges Angebot, so scheint jetzt geradezu eine Schwemme von Gebärden-CDs über uns hereinzubrechen.

In diesem Artikel will ich versuchen, eine Übersicht der derzeit in Deutschland erhältlichen Gebärden-CD-ROMs zu erstellen und eine Wertung vorzunehmen. Es geht letztlich um die Frage: Welche CD-ROM ist für wen geeignet?

Ich erspare mir die Hinweise auf Systemvoraussetzungen, da sie ohnehin immer aufs Gleiche hinauslaufen: Gerade bei der Multimedia-Wiedergabe gilt: Je mehr RAM, je schneller der Prozessor und das CD-Laufwerk und je leistungsfähiger die Grafkikkarte, desto besser.

Für alle getesteten CDs läßt sich vorab feststellen, daß sie technisch problemlos laufen. Es gibt nur kleine Unterschiede. So bietet eine CD den Vorteil, ohne jegliche Installation auszukommen und nach dem Einlegen per Autostart sofort anzulaufen. Leichter geht's halt nimmer! Aber auch die Installationsprogramme arbeiten durchweg fehlerfrei und ermöglichen einen Start aus dem Startmenü heraus. Über ein Deinstallationsprogramm verfügt allerdings nur eine der CDs (Gebärdenlexikon hk).

Die Qualität der Filme weist keine großen Unterschiede auf und ist den technischen Möglichkeiten des Mediums angemessen. Sprich: Bewegungsabläufe sind flüssig, und man kann sie deutlich erkennen und verfolgen.

Für die Bedienung der Filmwiedergabe wird üblicherweise eine Schalterleiste mit den gewohnten Tasten für Wiedergabe, Pause, Vorlauf usw. eingeblendet. Die Funktionalität ist in jedem Fall sehr übersichtlich und benutzerfreundlich, und für den Notfall werden Hilfe-Dateien angeboten. Nach einer kurzen Eingewöhnungsphase sind alle Programme kinderleicht zu handhaben. Unterschiede gibt es in bezug auf Funktionen wie Loop (Endlosabspielen) und Zeitlupe. Und immense Unterschiede werden deutlich, wenn die Lexika gleichzeitig noch als Lernprogramme genutzt werden wollen.

Vorgestellt werden drei Serien mit jeweils 3 bzw. 2 CDs und zwei einzelne CDs. Nicht berücksichtigt werden die CDs des Hamburger Zentrums, da sie sich an ganz beschränkte Zielgruppen (wie z.B. Psychologen) wenden.
 

DGS-CDs von DESIRE (Microbooks) der RWTH Aachen


   
Die gigantische Phrasensammlung der Aachener CD kann man per Kategorien, Satztypen oder Wortsuche in den Griff bekommen. Sehr hilfreich sind neben den lautsprachlichen Übersetzungen auch die DGS-Glossen. Hinter dem Doktorhut verbirgt sich die Quizfunktion, die allerdings immer die komplette Wort- bzw. Phrasensammlung abfragt.

Jenner heißt der Monat in Österreich, Januar in Deutschland. Regional unterschiedliche Begriffe, und um der Vielfalt und Eigenständigkeit willen sollte man sich hüten, eine Vereinheitlichung anzustreben. Aber müssen es gleich 9 (in Worten: NEUN!) verschiedene Gebärden sein für Januar? (Dabei ist diese Sammlung nicht einmal komplett.) Hätte Luther seine Bibelübersetzung lieber in einem Dutzend Dialekten schreiben sollen, aus Respekt vor den Dialekten? Oder war es nicht doch sinnvoll, mit einer einzigen Übersetzung einen Beitrag zur Vereinheitlichung und zur Schaffung einer Hochsprache zu leisten? Und wenn Gegner der Gebärdensprache die Existenz einer DGS anzweifeln, u.a. mit dem Argument, daß es ja keine DEUTSCHE, sondern bestenfalls regionale Gebärdensprachen gebe - sollte man ihnen mit neunmal Januar, siebenmal März usw. noch Munition liefern?
 
 

Hier einer der "Nord/Mitte-Januare".

Die Aachener Gebärden-CDs werfen gleich eine ganze Reihe von grundsätzlichen Fragen auf. Die Autoren haben sich eindeutig für Antworten entschieden - aber ob es die richtigen sind? Man hat sich für Dialektale entschieden. Ein sehr schönes Wort, sehr wissenschaftlich, aber ob das reicht, Kritiker zu überzeugen? Und wenn man denn Gebärden lernen will - lernt man gleich alle neun Januare, sucht man sich den für die eigene Region aus, und wenn ja in welcher Kombination? Nur für Nord/Mitte 1, oder Nord/Mitte 2, oder Mitte/West/Ost? Na gut, gehen wir gleich vom Modus "Dialektale Mitte" aus - und da finden wir: viermal Januar!

Einfacher ist es da schon, wenn erstmal ein Begriff in der Gebärdensprache gar nicht existiert und dann neu eingeführt wird, wie z.B. der Begriff "kommunizieren", der mit seiner C-Handform seinen amerikanischen Ursprung nicht verhehlen kann. Ich kann mich daran erinnern, wie ein gehörloser Freund nach einer Amerikareise diese Gebärde zielstrebig und geradezu penetrant einsetzte. Für mich war damals durchaus nicht klar, ob man die amerikanische Gebärde nicht vielleicht per K-Handform anpassen sollte. Inzwischen ist das keine Frage mehr. Die Gebärde Kommunikation (mit C-Handform) gehört quasi zum Gundwortschatz.

Es drängt sich die Frage auf, für welche Zielgruppe und mit welcher Absicht diese CDs erstellt wurden. Der wissenschaftliche Hintergrund ist allerorten unübersehbar, nicht nur, was die Dialekte betrifft. Eine Kategorisierung nach Handformen verdeutlicht, daß eben auch linguistische Aspekte mit einbezogen wurden. Was haben Angestellte, Bulgarien und Kommunikation gemeinsam? Sie werden mit der C-Handform gebärdet. Unter systematischen Gesichtspunkten durchaus interessant.

Für den Lernenden der Gebärdensprache dürften weder Dialektale noch eine Kategorisierung nach Handformen sonderlich hilfreich sein. Aber es gibt ja eine Quiz-Funktion. Nur, wie kann man sich eine Lernsequenz zusammenstellen? Man kann unter Anfänger, Fortgeschrittener und Experte wählen. Und was macht den Unterschied: entweder 3, 4 oder 5 Auswahlmöglichkeiten bei der multiple choice. Als Anfänger möchte ich nun aber nicht gleich nach dem kompletten Wortschatz abgefragt werden. Wo und wie kann ich auswählen? - Ich kann es nicht! Anfänger werden wie Experten mit dem gesamten Wortschatz der jeweiligen CD konfrontiert. Von der Erstellung eines Lernprogramms scheinen die Wissenschaftler wenig zu verstehen.

Wenn nicht zum Gebärdenlernen, wozu sind die CDs denn dann gut? Nun ja, man kann sie natürlich als Lexikon benutzen. Und als solches sind sie ja schließlich auch deklariert. Unter diesem Aspekt ist die Wissenschaftlichkeit dann sehr positiv zu bewerten. Die Kategorien sind eindeutig und stringent. Aber wieder stellen die Macher sich mit der Regionalität selber ein Bein. Warum muß in der Kategorie Familie der Begriff Kind gleich fünfmal auftauchen? Gut, es gibt halt so viele Dialekte. Aber warum taucht dann der Plural Kinder nur einmal auf? Gibt es in den anderen Dialekten keinen Plural für Kind?

Sieht man von der Dialektproblematik einmal ab - und nicht für jeden Begriff gibt es schließlich Dialektale - dann sind die CDs jeweils gute Lexika. Was allerdings wieder völlig unverständlich ist: Die drei CDs sind als Einheit geplant worden und kommen gemeinsam auf den Markt. Warum gibt es dann nicht ein Verzeichnis der Gebärden, das alle drei CDs umfaßt? Da taucht doch in der Kategorie Familie auf der zweiten CD lediglich der Begriff Generation auf. Steht da ganz einsam und allein. Gibt es da nicht noch ein paar mehr Begriffe zu diesem Thema? Wo finde ich Mama (sechsmal!), Oma, Cousine usw.? Na, auf der ersten CD. Wenn ich einen bestimmten Begriff suche, muß ich also notfalls alle drei CDs ausprobieren - wobei natürlich nicht garantiert ist, daß der Begriff tatsächlich vorhanden ist. Das kann also ein wenig unersprießlich werden.

Ein wenig anders sieht es bei der dritten CD in der Serie aus. Sie enthält immerhin 1584 Phrasen. Hat man vorher mit den anderen beiden CDs gearbeitet, irritiert zuerst einmal die veränderte Benutzeroberfläche, die aber wegen der veränderten Auswahlmöglichkeiten wohl unumgänglich ist. Es gibt die Möglichkeit, nach 52 Kategorien (von Aussehen bis Zuhause) Sätze auszuwählen. Die zweite Auswahlmöglichkeit ist nach Satztypen. Eine gute Idee, wenn es darum geht, die gemeinsamen grammatikalischen Strukturen zu verdeutlichen. Bei der dritten Kategorie, der Wortsuche, spielt die Technik noch nicht so richtig mit. Nehmen wir z.B. alle Sätze, in denen das Wort "ab" vorkommt. Der Satz "Das Schiff legt um 700 Uhr ab" leuchtet ein. Aber was in aller Welt macht hier "Gab es Probleme bei der Operation?" Nun, in "Gab" kommt doch auch "ab" vor. Ein kleiner Programmierfehler, der hoffentlich in der nächsten Version beseitigt sein wird.

Ist man bei ganzen Phrasen angelangt, bietet sich das Lernen in simulierter Kommunikation und Interaktion geradezu an. Die simpelsten Lernprogramme benutzen für solche Zwecke Dialoge, kleine Geschichten aus dem Alltag, Comics o.ä. In der Phrasensammlung sucht man Derartiges vergeblich. Die gigantische Sammlung von Sätzen ähnelt daher eher den bekannten Fremdspachenführern, die man beim Wechseln des Urlaubsgeldes in der Sparkasse mitbekommt - zusammenhanglos nämlich.

Die Quizfunktion auf dieser CD ist völlig anders konzipiert als bei den beiden anderen CDs. Man läßt sich einen beliebigen Satz (einen von 1584, wieder keine Feinauswahl möglich!) in Schriftform (Deutsch und/oder DGS-Glosse) zeigen und gebärdet ihn. Anschließend kann man sich den Gebärdenfilm ansehen und vergleichen. Hier gibt es keine Instanz, die die Richtigkeit beurteilt - außer einem selbst. Man muß alle 1584 DGS-Sätze bereits gelernt haben, dann kann man aus dieser gewaltigen Auswahl eine Selbstkontrolle vornehmen. Methodik, Didaktik und Lernpsychologie müssen für die Verfasser dieser CD Fremdworte sein. Und so ist es auch nicht verwunderlich, daß diese Begriffe auf den CDs nicht vorkommen.

Abschließend kann nur die Frage wiederholt werden: Für wen sind die CDs eigentlich gedacht? Als Lernprogramm sind sie schlichtweg ungeeignet, und als Lexikon nur bedingt einsetzbar. Für denjenigen, der einen Einblick in eine ihm bis dahin fremde visuelle Sprache gewinnen möchte, stellt sie jedoch ein recht weites Schlüsselloch dar. Und was bei aller Kritik nicht untergehen sollte: Sowohl Wortschatz als auch der Umfang der Phrasensammlung sind unschlagbar groß.
 
 

EDV-gestütztes Lexikon der vereinfachten Gebärden für mehrfachbehinderte gehörlose Menschen in der WfB, Teil 1 und 2

Echt multimedial, die Zuordnung von Gebärdenfilmen, Sound, Realbild, lautsprachlichem Begriff und Erläuterung! Hinter dem Zeigefinger-Symbol verbirgt sich das Fingeralphabet. Jeder Begriff kann zusätzlich gefingert werden.

 

Im Gegensatz zu diesem komplizierten Titel sind die sich dahinter verbergenden Gebärden-CDs die am einfachsten zu handhabenden. Reinschieben, und ab geht's!

Warum vereinfachte Gebärden? Und warum für Mehrfachbehinderte? Zumindest auf den ersten Blick sind die Gebärden nicht von den normalen Gebärden Gehörloser zu unterscheiden. Allerdings: Es gibt Sound! Die gehörlose Gebärdende spricht deutlich vernehmbar - mit "gehörloser" Stimme. Nun weiß jeder, daß DGS und Stimme sich nicht vereinbaren lassen. Also LBG und eine Verbeugung vor den Oralisten/Hörgerichteten? Dummerweise erweckt auch der Bezug auf Mehrfachbehinderte die Assoziation zu der bekannten Argumentation: "Wenn es aufgrund der intellektuellen Minderbegabung unumgänglich ist, setzen wir notfalls auch Gebärden ein" - im Klartext: Gebärden (nur!) für die "Minderbemittelten"! - Sehen wir es doch lieber positiv: Nicht nur Gehörlose sind die Adressaten, sondern auch Resthörige und hochgradig Schwerhörige, und denen wird durch den auditiven Kanal ein weiteres Medium erschlossen.

Aber lassen wir die ideologischen Vorüberlegungen, die sich aus dem Namen der CD ergeben, einmal beiseite. Unübersehbar ist die thematische Ausrichtung auf die WfB, die Werkstatt für Behinderte. Die Auswahl der Begriffe richtet sich eindeutig auf diesen Bereich.

Lernen kann man bei diesen CDs durch Anschauen und Nachmachen. Ein explizites Lernprogramm ist nicht dabei. Da diese Funktionalität nicht beabsichtigt war, entzieht sie sich auch der Kritik. Vorteilhaft sind die Exportfunktionen. Sowohl Bilder aus den Gebärdenfilmen als auch Texte lassen sich über die Zwischenablage exportieren. So ist es möglich, sich eine Mappe mit Gebärdenfotos und dazugehörenden Texten zusammenzustellen, à la Gebärdenbuch, aber ganz individuell. Zusätzlich läßt sich jeder Begriff mit dem Fingeralphabet darstellen und - was für gehörlose Nutzer sicherlich ein großer Vorteil ist - es läßt sich ein Bild von dem Gegenstand einblenden. Spätestens hier wird deutlich, daß diese CD als Zielgruppe weniger Hörende als Gehörlose hat. Gehörlose, die Gebärden lernen müssen? Da kann man sich die Frage nicht verkneifen, wer da wen mehrfachbehindert hat (sicherlich nicht die WfB oder die Macher dieser CDs!). Schlimm, daß es solcher (Wieder-)Aufbaumaßnahmen bedarf, andererseits natürlich mehr als lobenswert, daß es sie gibt! Fairerweise muß aber der vorherrschende Grad der Behinderung bedacht werden, welcher die Betroffenen bei ihrem Eintritt in die WfB mit ihren erdrückenden neuen Arbeitsprozessen, Tätigkeiten und Werkzeugen vor große Schwierigkeiten stellt. Die Kombination Realbild-Gebärde-Begriff im Gebärdenlexikon hilft ihnen bei der Begriffserschließung.
 

777 Gebärden

 
Für Lernwillige der Clou: rechts unten die Lernliste. Man kann sie sich individuell zusammenstellen, abspeichern, quizmäßig Begriffe abfragen lassen und eine Erfolgsstatistik einsehen. Diese Option bietet sonst keine der CDs. Hinter der schmalen Leiste links unten (CD 1-3) verbirgt sich das Gesamtverzeichnis aller drei CDs dieser Serie. Man muß zwar gegebenenfalls die CD wechseln, um zur gewünschten Gebärde zu kommen, aber man braucht nicht mühsam alle CDs zu durchsuchen. 

Demokratisierung durch Technik - ein blödes Schlagwort? In diesem Fall hat es seine Berechtigung. Sowohl Video- als auch Computertechnik sind heute so preiswert zu bekommen und zu handhaben, daß auch die Produktion von Gebärden-CD-ROMs von Privatleuten möglich ist. Keine aufwendigen Videostudios mit Schnitt- und Nachbearbeitungsgeräten. Kein Team von Kameraleuten, Cuttern usw. usw. Eine Dolmetscherin mit einer Idee, Gehörlose, die gebärden, ein Bruder, der gut mit dem Computer umgehen kann, und der Wagemut, eine kleine Firma zu gründen und in die CD-Produktion einzusteigen. Klingt wie eine dieser legendären Erfolgsstories der Garagenfirmen, in denen die jungen Computerfreaks dann blitzschnell zu Multimillionären werden. Nun, ganz so viel Geld wird sich in dem kleinen Gehörlosenbereich wohl nicht verdienen lassen. Eine Erfolgsstory sind die "777 Gebärden" dennoch.

Fangen wir gleich mit der dritten CD an. Sie bietet eine Übersicht über alle Begriffe, die auf den drei CDs vorkommen. Auch, wenn das anschließende CD-Wechseln ein wenig mühsam ist - man braucht wenigstens nicht auf jeder der CDs gesondert zu suchen. Der Einordnung in Kategorien merkt man deutlich an, daß weder Wissenschaftler noch andere Fachleute am Werk waren. Es hakt und klemmt vielerorts. Ein Adjektiv taucht z.B. bei Verben auf, wobei die Kategorie Verben als solche schon fragwürdig ist. Aber wenn man genau hinschaut, kann man bei den drei CDs auch eine Entwicklung beobachten: von einer leicht schwankenden Haltung zwischen LBG und DGS hin zu einem eindeutigen Bekenntnis zur DGS, von technischer Unsicherheit hin zu einer gewissen Professionalität.

Der Knüller der "777 Gebärden" ist zweifellos die Quiz-Funktion mit Lernlisten. Sie möchten sich auf einen Krankenhausbesuch vorbereiten und den dazugehörigen Wortschatz lernen? Wählen Sie die Kategorie aus und sammeln Sie alle Gebärden in einer Liste. Die können sie natürlich durch beliebige Einträge aus anderen Kategorien ergänzen, d.h. ganz individuell gestalten. Jetzt können Sie diese Gebärden gezielt üben und sich anschließend per Quiz-Funktion abfragen lassen. Dann wird Ihnen eine beliebige Gebärde aus Ihrer Liste gezeigt, und Sie können entweder den Begriff selber eingeben oder in Ihrer Liste anklicken. Es folgt eine kurze Textmeldung als Feedback (ob falsch oder richtig), und weiter geht's mit der nächsten Gebärde. Wenn Sie es heute nicht schaffen, machen Sie eben morgen weiter. Ihre Liste können Sie abspeichern. Und Ihre Leistung können Sie anhand einer einfachen Statistik auch ständig überprüfen.

Die Regionalität von Gebärden bzw. die Entscheidung für die eine und gegen die andere ist natürlich immer problematisch. Hier gibt es keine Patentlösung, und wer den Nutzer nicht durch eine unübersichtliche Vielzahl von Dialektalen verschrecken und entmutigen will, muß schließlich so oder so entscheiden. So wird mancher beim Betrachten der "777 Gebärden" feststellen: Das gebärde ich aber anders. Das ist jedoch ein Punkt, der sich nicht vermeiden läßt. Man muß der Autorin zugute halten, daß sie die Entscheidung letztlich ihren gehörlosen MitabeiterInnen überlassen hat.

 
"Du möchten Pizza essen" könnte von Gebärdengegnern als Beweis für die Primitivität der DGS mißbraucht werden. Da sind DGS-Glossen wirklich geschickter, und auf der dritten der "777 Gebärden"-CDs ist man auch zu ihnen übergegangen. Hilfreich sind auch Erläuterungen und Hintergrundinfos.

 

Gebärdenlexikon (hk)

In buchstäblich letzter Minute erhielt ich vom Verlag hörgeschädigte kinder eine Beta-Version der neuen CD-ROM, die als Ergänzung zum Gebärdenlexikon (Bd. 1, Grundgebärden) konzipiert ist. Diese Multimedialität in Form der Kombination von Gebärdenbuch und CD-ROM ist im Rahmen dieses Vergleichstests einmalig. Die Gebärden im Buch und auf der CD sind identisch, und die Numerierung ist gleich. Allerdings bezieht sich das nur auf die letzte Ausgabe des Gebärdenbuches, das im Gegensatz zu den vorangegangenen eine andere Systematik (alphabetisch und nicht nach Sachthemen geordnet) und eine neue Numerierung hat.

Analog zu den Gebärdenbüchern ist die CD eindeutig und erklärtermaßen auf LBG (Lautsprachbegleitende Gebärden) ausgerichtet. Das wird auch schon dadurch deutlich, daß die gehörlosen Darsteller mit Stimme gebärden, und auch dadurch, daß man "Gebärdenpfeilbilder" einblenden kann, die ursprünglich ein Notbehelf bei den starren und zweidimensionalen Fotos im Gebärdenbuch waren - und neben den Filmen jetzt eigentlich entbehrlich sind.
 
 

Ist die Entwicklung angesichts der politischen Forderung nach Anerkennung der DGS und eines erstarkten Deaf-Power-Bewußtseins unter den Gehörlosen nicht längst über die LBG hinweggerollt? Mit Sicherheit nicht! Es ist nur eine Frage der Zielgruppe, und mit der Festlegung auf LBG sind das halt Spätertaubte, (hochgradig) Schwerhörige, Pädagogen, die LBG als Kompromißmedium in heterogenen Klassen mit Schülern unterschiedlichsten Hörstatus einsetzen und Eltern hörgeschädigter Kinder, denen die DGS - aus welchen Gründen auch immer - widerstrebt. Und im übrigen sind die einzelnen Gebärdenzeichen von LBG und DGS weitgehend identisch, da von der DGS übernommen. Die Unterschiede bestehen in den grammatikalischen Strukturen, und hier richtet sich die hk-CD an der deutschen Sprache aus und nicht an der DGS. Hier liegt auch ein Schwachpunkt der CD: Man kann mit den auf der CD vorhandenen Begriffen Sätze gebärden lassen. Man gibt die Wörter in eine Textzeile ein, klickt die Start-Taste an, und schon wird der komplette Satz gebärdet. So wird der Beispielsatz "Ich habe Hunger" folgendermaßen gebärdet: Ein Herr gebärdet "Ich" - Wechsel - eine Dame gebärdet "habe" - Wechsel - der Herr gebärdet "Hunger". Von ansprechender Gebärdenharmonie kann hier wohl nicht die Rede sein. Muß man sich aber ja nicht ansehen!

Auch wenn der Name auf ein Lexikon hindeutet - die Lernfunktionalität nimmt doch einen breiten Raum ein. Insgesamt vier Übungsmöglichkeiten stehen zur Verfügung: ein ABC-Quiz, ein sogenannter Gebärdenkurs, ein Fingeralphabet-Kurs und ein Spiel zum Fingeralphabet. Das ABC-Quiz ist eine multiple-choice-Abfrage, und ABC bedeutet, man hat die Wahl zwischen drei Gebärden für einen Begriff. Die werden allerdings aus dem Gesamtwortschatz beliebig eingeblendet. Anders im "Gebärdenkurs". Da kann man vorab Kategorien auswählen. Und da sich sogar eigene Kategorien erstellen lassen, kann man sich hier seinen eigenen Kursus sinnvoll zusammenstellen. Es wird eine Gebärde eingeblendet, und man muß das richtige Wort aus der Liste auswählen. Schwierig wird es nur, wenn es für einen Begriff mehrere Gebärden gibt. Dann kann man nur raten, ob man da eben Frau (1) oder Frau (2) gesehen hat. Der Fingeralphabet-Kurs beschränkt sich auf das Erkennen einzelner Buchstaben, und beim Puzzle muß man durch Schieben das durcheinandergewürfelte Alphabet wieder ordnen. Nicht gerade sehr hilfreich, weder zum Training des schnellen Erkennens von gefingerten Wörtern (und das ist doch die größte Schwierigkeit beim Fingeralphabet!) noch zum Selberfingern - was eine CD ohnehin nicht leisten kann. Aber selbst, wenn man die Fingeralphabetübungen außer acht läßt - die Gebärdenübungen sind für Lernwillige voll ausreichend. Und über alle Lernerfolge kann man Buch führen - bis hin zu Statistiken und Grafiken.

Erwähnt werden sollten auch Funktionen, die am Rande auftauchen, wie das individuelle Einfügen von Gebärdenmerkzetteln, die Speicherfunktion für beliebige Standbilder aus den Filmen, Druckoptionen von Filmen mit Einzelbildauswahl und nicht zuletzt die Vollbildfunktion, mit der nur diese CD aufwartet. Das Bild ist dann zwar erwartungsgemäß weniger scharf, aber die Bewegungsabläufe sind flüssig und noch deutlich zu erkennen. Und die Darstellung kommt dem möglicherweise gewohnten Gebärdenkurs per Videocassette recht nahe.

Wenn die angekündigten Nachbesserungen an der Beta-Version durchgeführt sind, kann sich der Nachzügler im CD-Reigen durchaus neben seinen Vorgängern sehen lassen - voraussichtlich im März/April.

Fazit

Wenn eine Vielfalt von vier Serien mit insgesamt neun Gebärden-CDs vorliegt, stellt sich zwangsläufig die Frage, wie weit die Gebärden auf den verschiedenen CD-Serien übereinstimmen. Es würde den Rahmen dieses Artikels sprengen, sämtliche Gebärdenzeichen miteinander zu vergleichen. Nehmen wir also ein Beispiel und fangen mit den "vereinfachten Gebärden" an. Dort stellen wir den Gebärden-Wortschatz zum Bereich Metallverarbeitung zusammen. Nun können wir wunderbar die verschiedenen Metalle vergleichen. Wir stellen fest, daß die Gebärde für Eisen identisch ist mit der Gebärde für Metall. In diesem Punkt sind sich übrigens alle CDs einig. Das Mundbild bringt's halt. Aluminium wird kombiniert aus dem A des Fingeralphabets plus Metall, und Blei ist folgerichtig "B-Metall". Diese Metalle sehen auf den "777 Gebärden" total anders aus, aber in diesem Fall ist Aluminium = Blei (abgesehen vom Mundbild). Und auf den Aachener CDs sieht die Gebärde für Kupfer aus wie Alu und Blei bei den "777 Gebärden", dafür gibt es dann eine völlig andere Gebärde für Aluminium. Verwirrend!
 
 
 

 

Hier haben Sie die freie Auswahl: dreimal Aluminium, nicht etwa regional unterschiedlich, sondern von den verschiedenen CDs.

Nun läßt sich das natürlich alles erklären. Metall und Eisen gehören zum Grundwortschatz auch bei Gehörlosen, die anderen Metalle kamen schlicht und einfach nicht oder nur selten vor. Hier kommen wir an den Punkt, daß die Gebärdensprache jahrhundertelang unterdrückt wurde und sich nicht weiterentwickeln konnte. Was also tun, wenn man trotzdem Gebärden darstellen will, die es eigentlich nicht gibt? Man denkt sich halt neue aus, übernimmt Zeichen von ähnlichen Begriffen, oder man nimmt halt das Fingeralphabet zu Hilfe. Das ist gewissermaßen das Gegenstück zu den Dialekten: Es wird eine Vielzahl verschiedener Gebärden künstlich erschaffen. Natürlich kann man keinem der Produzenten daraus einen Vorwurf machen. Jeder versucht nur, den Mangel irgendwie zu verwalten. Das Resultat ist allerdings ein wenig deprimierend. Wie schön wäre es, wenn es ein zentrales Gremium gäbe - man könnte sich beispielsweise eine Kommission des Deutschen Gehörlosenbundes vorstellen - das in diesen Fragen definitive Entscheidungen fällt. Wenn auch die Rechtschreibreform von vielen Seiten aus bekämpft wurde und viele Schwachstellen haben mag - sie ist wenigstens aus einem Guß, und man braucht nicht in mehreren Wörterbüchern nachzublättern (um hinterher so dumm als wie zuvor zu sein).

Also was nun? Welche CDs sollte man sich kaufen? - Am besten alle! Jede hat ihre individuellen Stärken und Schwächen, und mit der Vielfalt müssen wir vorerst notgedrungen leben.

Wer das umfangreichste Lexikon und die beste Einsicht in die Strukturen der DGS haben möchte, kommt an den Aachener CDs nicht vorbei. Mit über 5000 Gebärden (inklusive regionale Gebärden!) und 1500 Gebärdensätzen sind sie eindeutig die umfangreichste Sammlung. Auch, wer linguistische Gesichtspunkte wie die Handform oder Satzmuster nutzen möchte, sollte bei den Aachenern bestellen.

Allerdings bürgt nicht automatisch ein Riesen-Team von Wissenschaftlern, Profi-Multimediaproduzenten und gehörlosen Mitarbeitern für die bessere Qualität. Wer mit einem etwa halb so großen Wortschatz auskommt und seinen Schwerpunkt auf das Lernen von Gebärden legt, ist mit den "777 Gebärden" besser bedient. Die Quiz-Funktion mit Lernlisten, Statistiken usw. bietet von allen verglichenen CDs die besten Lernmöglichkeiten.

Das "EDV-gestützte Lexikon der vereinfachten Gebärden für mehrfachbehinderte gehörlose Menschen in der WfB" wendet sich an ebendiese. Es ist klar strukturiert und beschränkt sich eindeutig auf lexikalische Funktionen. Dennoch bietet es Gehörlosen gute Übungsmöglichkeiten, nicht zuletzt durch die Dreigleisigkeit von Gebärde, Schriftsprache und Bild, sich den Wortschatz an Fachbegriffen der beruflichen Bildung anzueignen.

Die "Gebärdenlexikon-CD" des Verlags hörgeschädigte kinder verzichtet wie das "EDV-gestützte Lexikon..." auf DGS-Strukturen. Es bietet Einzelgebärden und Fingeralphabet und dazu eine gute Lernfunktionalität - und als einziges den Vollbildmodus. Und nicht zu vergessen: die Verbindung mit dem Gebärdenlexikon in Buchform.

Trotz der Vielzahl der bereits erhältlichen CDs sind offensichtlich weitere in Vorbereitung. So plant die Autorin der "777 Gebärden" spezielle Gebärden-CDs für hörgeschädigte Kinder, und auch der Verlag hörgeschädigte kinder will seine CD möglichst zu einer Serie ausweiten.

Generell wünschenswert wäre aus meiner Sicht, daß die positiven Ansätze aller Produktionen aufgenommen und bei einer zukünftigen Neuproduktion berücksichtigt werden. Dazu zählen meines Erachtens eine möglichst breit angelegte Multimedialität, eine ausgefeiltere Methodik bei der Lernprogramm-Funktionalität, Einbeziehung linguistischer Aspekte und nicht zuletzt eine maßvolle Handhabung von Dialektalen und von Vereinheitlichungsintentionen.

Wem das alles zu negativ klingt, dem sei gesagt: Die Gebärden-CD-ROMs sind trotz allem besser als alles, was es vorher zum Nachschlagen oder Lernen von Gebärden gab - abgesehen vom Kontakt zu Gehörlosen oder von Gebärdenkursen.


  tabellarische Übersicht

Bernd Rehling
Fax 04251 7406
rehling@taubenschlag.de