Wer kennt schon Carl Wilke und seine Bilder?


Natürlich muß man ihn nicht kennen, Carl Wilke, jenen "Taubstummenlehrer" in Berlin, der selbst gehörlos war und vor 150 Jahren gelebt hat. Realistischerweise wird man sagen müssen: Kaum jemand kennt ihn, denn sein Werk und seine Leistung sind noch im 19. Jahrhundert von neueren Entwicklungen in der Pädagogik und in der Produktion gedruckter Bilder überholt, ja geradezu überrollt worden, von Entwicklungen, die man heute als fortschrittlich und "modern" zu bezeichnen pflegt.

Daß solche Entwicklungen, die letztlich hin zum Bild als Massenmedium führten, durchaus mit auf dem Lebenswerk von Carl Wilke beruhten im Sinne einer Voraussetzung, wenn auch sicher nicht der einzigen, dies ist heute ebenfalls unbekannt und verdient es, einmal ins Blickfeld gehoben zu werden. Und auch die Frage, wie es kommt, daß eine Ausstellung mit Bildern von Carl Wilke im Ostfriesischen Schulmuseum Folmhusen (und nur dort) stattfindet, bedarf einer Antwort. Es geht um Bilder, zum Teil sogar um bunte Bilder, und das mag den Zugang erleichtern zu einer Materie, die ansonsten eher als trockenes, mit einigem Recht eben in einem Museum beheimatetes Metier daherkommt. Es geht um zahlreiche Bilder, die ein innovativ denkender und emsig agierender Taubstummenlehrer im Laufe seines Lebens nicht nur konzeptionell ersonnen, sondern auch in Form von Lithographien selbst in die Tat umgesetzt hat: Wilke war nicht nur ein guter Lehrer, sondern auch ein meisterlicher Zeichner.

Seine seit etwa 1830 vom lithographischen Stein gedruckten Zeichnungen gehören heute zu den größten Seltenheiten, die der Markt der populären Druckgraphik des 19. Jahrhunderts zu bieten hat. Sehr wenige Exemplare der von Carl Wilke gefertigten und hernach vervielfältigten Darstellungen sind in Privat- oder Museumsbesitz vorhanden; es besteht allerdings die begründete Hoffnung, daß sich noch das eine oder andere Blatt hinzugesellt, von dem bisher nur nicht bekannt war, daß es dem Berliner Pädagogen und Künstler zuzuschreiben ist.

Es bildet sicher einen Zufall, daß, neben wenigen großen Museen, das Schulmuseum in Folmhusen und die private Sammlung von Frau Theda Gräfin von Wedel in Weener, dem Schulmuseum seit langem freundschaftlich verbunden, über eine erkleckliche Anzahl von Blättern aus der Produktion Carl Wilkes verfügen. Natürlich war es kein Zufall, daß man, einmal aufmerksam geworden, gezielt hinzugesammelt hat und vor allem: ein Auge entwickelte für jene bestimmten, durchaus charakteristischen druckgraphischen Meisterwerke, deren Urheber Wilke gewesen ist, indem er die zugrundeliegenden Zeichnungen auf dem Lithographiestein fertigte. Und also ist es heute kein Zufall mehr, sondern fast zwingend erforderlich, daß derjenige, welcher sich mit Wilke beschäftigen will, den "Folmhusener" Bestand tunlichst als eine der ersten Anlaufstellen zu nutzen hat.

Das Leben des Lehrers und Zeichners im Überblick

Aber nun von Anfang an: Als Carl Wilke im Brandenburgischen am 20. März 1800, also vor genau 200 Jahren, geboren wurde, gab es für die größten Teile der damaligen Bevölkerung keine Bilder: Man kannte sie einfach nicht, weder unsere heutige digitale und virtuelle Bilderflut in Fernsehen, Kino und Computer, noch die uns schon so lange geläufigen, dinglich (an-)faßbaren Abbildungen etwa in Zeitschriften oder zu Hause an der Wand. Man lebte in "unmittelbarer Anschauung" der Natur und seines Heimatortes, kommunizierte praktisch ausschließlich mündlich und hatte allenfalls davon gehört, daß es so etwas wie interessante und schöne bildliche Darstellungen gab. Das waren Kupferstiche oder gar Gemälde, die sich nur wenige Menschen, Adlige und wohlhabende Bürger etwa, leisten konnten. Zumeist lebte und wohnte man in einer bild- (und schrift-)losen Zeit.

Als Carl Wilke im Alter von anderthalb Jahren an Scharlach erkrankte und infolge mangelhafter medizinischer Versorgung sein Gehör verlor, war ihm "eigentlich" ein schicksalhafter Weg vorgezeichnet, der kaum hätte schlimmer aussehen können. Denn in einer Zeit, als die Schulpflicht noch nicht durchgesetzt war und die allgemeine Bildung häufig noch nicht einmal das Lesen und Schreiben umfaßte, waren Gehörlose, in der damaligen Sprache Taubstumme, in aller Regel dazu verurteilt, ein Leben als nicht bildungsfähige, dumme, ausgegrenzte Individuen in einer ländlichen Gesellschaft zu führen, die abweichendem Verhalten mit nicht allzuviel Aufmerksamkeit und Toleranz begegnete.

Einzig in Berlin gab es eine Bildungseinrichtung für Gehörlose, und Carl Wilke hatte das große Glück, "auf Vermittelung einer Wohlthäterin", so ein späterer Bericht, im Alter von sieben Jahren in diese "Sonderschule" aufgenommen zu werden. Acht Jahre lang besuchte er die "Königliche Taubstummenanstalt" und tat sich ganz besonders in einem Fach hervor, dessen Ausübung durch seine Behinderung nicht oder kaum erschwert wurde: im Zeichenunterricht.

Als so gut erwiesen sich seine Leistungen und Fähigkeiten im Zeichnen, daß er danach auf Empfehlung der Schulleitung in die Königliche Kunstakademie in Berlin aufgenommen wurde, wo er fünf Jahre lang studierte. Dann, Wilke war erst 20 Jahre alt, traf er eine grundlegende Entscheidung im Hinblick auf seinen Berufsweg und kehrte, statt bildender Künstler zu werden, als Taubstummenlehrer an "seine" Schule zurück. Dort sollte er anschließend mehr als 50 Jahre lang tätig sein. Ab 1826 leitete er den Zeichenunterricht und sah diese Tätigkeit in sehr weitsichtiger Form offenkundig als seine Berufung an. Wilke starb am 26. Januar 1876, nachdem er drei Jahre zuvor pensioniert worden war.

Was Carl Wilke so heraushebt aus seinem Metier des Lehrers und Zeichners ist sein Drang, den Unterricht der gehörlosen Schüler stetig zu verbessern, das pädagogische Niveau zu heben, und vor allem, die schulische Ausbildung systematischer zu gestalten und klarer zu strukturieren. Daß Wilke als Gehörloser selbst betroffen war, hat mit Sicherheit maßgeblich dazu beigetragen, daß er seine ausgeprägten Fähigkeiten als Zeichner früh einsetzte, um neue Anschauungsmittel für den Unterricht zu schaffen. Er schuf Bilder und damit neue Lehrmittel, die nicht mehr kleinformatig im Schulbuch abgebildet waren, sondern als Wandbilder im Klassenraum aufgehängt und von der ganzen Klasse verwendet werden konnten.

Natürlich war Carl Wilke nicht der einzige, der diese Entwicklung vom Handbild (oder Buchbild) zum Wandbild in der Schule beeinflußt hat; eine große Entwicklungslinie führt von Comenius über Basedow in das 19. Jahrhundert hinein. Er war aber zweifellos einer der wichtigsten, durch die Aufklärung beeinflußten Pädagogen in diesem Bereich. Wie kaum ein anderer war er sozusagen an der Basis tätig. Und er setzte seine Erfahrungen aus dem elementarsten,
sprachlosen, sogenannten pantomimischen Anschauungsunterricht, der (wenigstens) eine gewisse "Begriffsentwick
lung" der Schüler zum Ziele hatte, in Verbindung mit seinen zeichnerischen Fertigkeiten in neue Konzeptionen von Lehrmitteln um.

Die Anfänge der Wilke'schen Bilderreihen

Er schuf, unterstützt von den preußischen Schulbehörden, die große Stücke auf ihn hielten, zuerst ein Bilder- und Wörterbuch für Taubstumme (1829) und sodann "zwanzig methodische Bildertafeln zum Gebrauche beim Anschauungsunterrichte in Elementar- und Kleinkinderschulen, besonders beim Taubstummen-Unterricht" (1837). Jede dieser zwanzig Tafeln bestand aus vier Einzelbildern, die später
auch in kolorierter - und damit natürlich teurerer Form von den Schulen erworben werden konnten. Die Bilder sollten Handlungen, Zustände und Beschaffenheiten erklären, zuerst intransitive Tätigkeitswörter wie etwa liegen, ruhen oder schlafen und hernach transitive wie ziehen, schieben, hauen oder schlagen. Zum Schluß sollten Eigenschaften dargestellt werden.

Für ein Schulmuseum liegt es nahe, aus den insgesamt 80 kleinen, szenischen Darstellungen, deren Originale sich im Nationalen Schulmuseum der Niederlande in Rotterdam befinden, beispielhaft solche auszusuchen, die auch thematisch und motivisch einen Bezug zur Schule aufweisen. Darum handelt es sich bei zwei ausgewählten Bildern, die einmal das Lernen, insbesondere das Lesen in der Schulklasse mit Knaben veranschaulichen sollen und zum zweiten die eher häusliche Bildungs-Unterweisung mit Vorlesen, Schreiben des Mädchens und Rechnen des Jungen (auf der Schiefertafel). Das Sujet der Abbildung, insbesondere die Kleidung der abgebildeten Personen, entspricht - buchstäblich haargenau, wenn man die Frisuren hinzunimmt - der herrschenden bürgerlichen Mode der Biedermeierzeit. Die Tafeln waren zeitgemäß komponiert, nicht altertümlich, wie sie heute auf uns wirken mögen.

Die pädagogische Konzeption der Bildertafeln und ihre didaktische Bedeutung sind höchst bemerkenswert und weiterführend. Die Tafeln selbst sind heute außerordentlich selten und nur an ganz wenigen Stellen erhalten geblieben, etwa in der Königlichen Bibliothek in Kopenhagen.

Das Museum für Volkskunde in Berlin verwahrt mehrere vollständige Serien Wilke'scher Bilder und darüber hinaus eine Vielzahl vergleichbarer, zeitgleicher oder nachfolgender druckgraphischer Abbildungen nicht nur, aber auch aus dem Schulmilieu. Im Nationalen Schulmuseum in Rotterdam hat dessen Direktor, Jaap ter Linden, eine riesige Sammlung von Beispielblättern des frühen Bilderwerkes von Carl Wilke zusammengetragen. Die Aufbewahrungsorte zeigen bereits, daß schon dieses erste Tafelwerk auch in ausländischen Ausgaben vertrieben worden ist, wobei im Moment noch offen bleiben muß, ob etwa die niederländische Ausgabe (deren Beschriftung bestimmte Fehler aufweist) am Anfang noch in Berlin gedruckt worden ist.

Die genannten Museen widmen sich unter schulgeschichtlichen Aspekten auf der einen Seite sowie im Hinblick auf Fragestellungen einer Erforschung der populären Druckgraphik auf der anderen dem Werk und der Wirkung Carl Wilkes. Weitere Einzelbestände im Archiv Schulisches Wandbild der Universität Duisburg und im Westfälischen Freilichtmuseum Detmold können hier ergänzend mitgenannt werden.

Nach der Meinung der pädagogikgeschichtlichen Forschung bilden die 1837 erschienenen Bildertafeln von Wilke jedenfalls einen "entscheidenden Fortschritt in der Geschichte der schulischen Bildmedien". Und ein zeitgenössischer Kommentar vermerkte über sie: "Die Bildertafeln waren aus einem Bedürfnis der hiesigen TaubstummenAnstalt hervorgegangen, und hatten zunächst nur den Zweck, taubstumme Schüler mit den gebräuchlichen Zeit- und Eigenschaftswörtern bekannt zu machen. Die sorgsame Ausführung jener Bilder gewann ihnen bald in einem weitern Kreise den verdienten Beifall, sie wurden nicht bloß für den Taubstummen-Unterricht, sondern auch in vielen Elementarschulen mit dem besten Erfolg für den Anschauungsunterricht angewendet. Selbst im Auslande, namentlich in Holland, haben sie eine günstige Aufnahme gefunden."

Die "Gruppenbilder" als pädagogische Neuerung

Doch diese "günstige Aufnahme" in Kleinkinderschulen und im gesamten Elementarschulwesen, also weit über den Gehörlosenunterricht hinaus, genügte dem ständig an Verbesserungen interessierten Pädagogen Carl Wilke nicht. Bereits zwei Jahre später, 1839, gab er eine völlig neu konzipierte Weiterentwicklung heraus und näherte sich damit ganz entscheidend der späteren Gattung des großformatigen Schulwandbildes, das viele Generationen von Schülern nachhaltig prägen sollte. Seine neuen, nunmehr 16 Bildertafeln gingen in Richtung Verlebendigung, Anschaulichkeit und kompositorischer Geschlossenheit einen deutlichen Schritt weiter. Sie werden auch als Gruppenbilder bezeichnet, da jedes nicht mehr einen Vorgang oder eine Eigenschaft isoliert abbildet, sondern sich einem größeren, alltäglichen Lebenszusammenhang in Form von vielgestaltigen, genrehaften Szenen widmet. Die 16 von Wilke ausgewählten und realisierten Themen lauten:

1. Wohnstube
2. Küche
3. Garten (Familie im Garten)
4. Bauernhof (Wirtschaftshof)
5. Zimmer im Bauernhof
6. Scheune (Kornscheuer)
7. Viehstall
8. Dorf
9. Feldernte (Sommer)
10. Ostgarten (Obsternte)
11. Wald
12. Bergwerk (mit Steinbruch)
13. Fluß
14. Packhof
15. Markt
16. Bauplatz.

Diese 16 Bilder von 1839 fanden eine noch breitere Aufnahme als ihre Vorgänger. Sie stellten bis in die 1860er Jahre hinein wohl die einzige Serie von echten Wandbildern dar, die, mit einer Gesamtauflage von etwa 11.000 Exemplaren, in einer nennenswerten Anzahl in den Volksschulen der Zeit vorhanden war und im Anschauungsunterricht der Anfangsklassen genutzt wurde. Pädagogische Begleitliteratur erschien bald und ermöglichte es dem Lehrer, die Bilder zielgerichtet und didaktisch auch durchaus einheitlich einzusetzen (wobei zu fragen ist, inwieweit sich die Stadt- und Dorflehrer diesen sehr direkten Vorgaben auch tatsächlich unterworfen haben). Vier Beispiele sind hier ausgewählt und mögen etwas näher vorgestellt werden: Zimmer im Bauernhof, Garten, Dorf und Bauplatz.

Von Stadt und Land, von Arm und Reich: Beispiele

Gleich auf den ersten Blick erweist sich die Darstellung des "Zimmers im Bauernhof" als vielgestaltig und spannend. Es handelt sich nicht oder nicht nur um eine Wohnstube, sondern um einen Raum, in dem ganz offenkundig auch geschlafen, gewirtschaftet, gekocht und gegessen wird. Die offene Feuerstelle, die Koffertruhe, die traditionelle Butterbereitung mit dem Stampfbutterfaß: Dies sind Örtlichkeiten, Möbel und Vorgänge, die gleichsam symbolhaft ländlichagrarisches Leben und Wirtschaften zeigen sollen. Demgegenüber ist, der Vergleich sei hier nur textlich angefügt, in der Wohnstube der bürgerlichen Familie der Biedermeierzeit in deutlicher Unterscheidung zum Bauernhof alles an Einrichtungsgut vertreten, welches nach herrschender Auffassung zum wohlhabenden städtischen Wohninventar gehört hat. Der zugehörige Kommentar lautete: "Auf dem Bilde ist aber nicht eine Wohnstube abgemalt, wie ich und Eure Eltern eine solche haben, sondern die Wohnstube eines reichen Mannes". Wie alle Bilder Wilkes besitzen beide Wohnraumdarstellungen Vorbildfunktionen in gesellschaftlich-moralischer Ausrichtung, unabhängig davon, wie man ihren Realitätsgehalt ansetzt.

Ähnlich darf das Bild des Gartens interpretiert werden mit einer Anlage nach herrschaftlichem Muster und mit zahlreichen Details, die sich deutlich vom ländlichen Milieu, also vom "Bauerngarten", abgrenzen. Im Kommentarwerk wird der abgebildete Garten deshalb auch als "Lustgarten" bezeichnet. Einen Sprung in das vielen Schülern wohl sehr viel näherliegende dörflich-agrarische Milieu vollzieht das Bild vom Dorf. Hier sind mehrere "typische" Figuren und Szenen des dörflichen Lebens, wie Carl Wilke es sich vorstellte, zu einer Gesamtdarstellung zusammengefaßt, bei der es nicht so sehr auf Stimmigkeit, sondern mehr auf Aussagekraft im einzelnen ankam: Die Gänsehirtin, die Frauen beim Bleichen der Leinenbahnen, der ins Horn blasende Viehhirt und der Bauer beim Transport seines Pfluges bilden Versatzstücke im Bildvordergrund, die gleichsam additiv zusammengefügt worden sind und die Aufmerksamkeit der Schüler rasch auf sich ziehen.

Vom Konzept her gilt dies nun auch wieder für das letzte Bild dieser Reihe, den Bauplatz. Dieser führt aber gleich zurück mitten in die Stadt, ja in die städtische Metropole, mit Hausbau und Straßen-Pflasterarbeiten im Vordergrund, im Hintergrund aber mit einem herrschaftlichen Palais, mit der königlichen oder fürstlichen Kutsche, flankiert von ehrerbietig dienernden Bürgern, der Schildwache und Soldaten in Habacht-Stellung. Das Bild stellt durch diese zielgerichtete Komposition visuelle Bezüge her, die didaktisch nach dem Motto "vom Kleinen ins Große' oder "vom Nahen zum Fernen" verfahren, sicher mit großem Lernerfolg.

Was die Serie von 16 Bildern und damit Carl Wilke auszeichnet, ist über den Bereich der Schule hinaus die große Wirkung, die von ihnen auf die Entwicklung des gesamten Mediums "Bild" ausgegangen ist. Zahllose Neuentwicklungen von druckgraphischen Bildern mit ländlichen Szenen etwa aus dem agrarischen Arbeitsleben, mit Handwerksdarstellungen oder mit städtischen oder dörflichen Ansichten, haben die Bilder Wilkes als Vorbild genommen, häufig ganz offenkundig, gelegentlich auch eher mittelbar und erschließbar nur über eine intensive Bildanalyse. Man wird sagen dürfen, daß Carl Wilke mit seinen frühen Gruppenbildern in der Schule, aber auch über die Schule hinaus die Entstehung und Entwicklung des gedruckten Bildes, das massenhaft vervielfältigt werden konnte, maßgeblich mitbestimmt hat. Dies heißt selbstverständlich nicht, daß - umgekehrt - Wilke selbst von den künstlerischen Abbildungsmustern der Zeit um 1830, von der romantischen Genremalerei etwa, unbeeinflußt gewesen sei.

Wilke's Bilder, ihre Nachfolge und ihr Ende

Erst nach 1860 kamen neue, noch größere Schulwandbilder mit ähnlichen Inhalten auf den Markt, der sich danach, zunächst recht langsam, dann aber deutlich vergrößerte und veränderte. Eine im Gegensatz zu den Bildern von Wilke außerordentlich großformatige Serie mit Jahreszeiten-Bildern des Berliner Verlages Winkelmann wurde ab 1861 ständig weiterentwickelt und nahm, so würde man heute sagen, den Wilke-Bildern immer mehr Marktanteile weg. Diese veralteten zunehmend, so daß sich Carl Wilke 1870, im Alter von 70 Jahren und 31 Jahre nach der erstmaligen Herausgabe, entschloß, erstmals eine Neubearbeitung seiner Tafeln von 1839 in Angriff zu nehmen. Diese Neuausgabe gab den Darstellungen ein gestalterisch leicht korrigiertes, vor allem gestrafftes Gewand, veränderte aber die Motive kaum und behielt vor allem das im Verhältnis zu den Konkurrenzserien zunehmend ins Hintertreffen geratene Kleinformat bei.

Dieser Überarbeitung noch durch Carl Wilke selbst war überhaupt kein Erfolg (mehr) beschieden. Ihre gedruckte Auflage betrug 4.000 Exemplare, ihre verkaufte Auflage dürfte aber außerordentlich gering gewesen sein. So kann es kaum verwundern, wenn von dieser überarbeiteten Fassung bisher nur ein einziges Bild als sicher zuschreibbar bekannt ist: Es zeigt den Garten mit nur in Einzelheiten veränderten Details und findet sich in der Sammlung des Schulmuseums Folmhusen.

Bereits fünf Jahre später, 1875, nur zwei Jahre nach dem Tode Wilkes, erschien dann, den veränderten Ansprüchen der Schulen als Hauptabnehmer folgend, eine vollkommen neu gestaltete Ausgabe der Wilke'schen Schulwandbilder. Wilke dürfte eine solche grundlegende Veränderung bis zu seinem Tode abgelehnt haben. Auch diese Neuausgabe, das sei ausdrücklich vermerkt, löste sich jedoch konzeptionell und gestalterisch, bei aller "Modernität" und Anpassung an jüngere erzieherische Maximen, nicht völlig von ihren Wurzeln, den Zeichnungen Carl Wilkes.

Und diese Abhängigkeit führte letztlich, wiederum drei Jahrzehnte später um 1900, in einer in der Schule und im gesamten politischen und gesellschaftlichen Leben veränderten Epoche, dem Kaiserreich, dazu, daß die Zeit der Wilke'schen Bilder insgesamt ihrem Ende entgegenging.

Zuerst war der Neubearbeitung von 1875 durch den Seminarlehrer L. Heinemann und den Zeichner A. Toller allerdings noch ein durchaus großer Erfolg beschieden. Die "neuen" 16 Bilder fanden gute Aufnahme und wurden nach ihrer ersten Auflage in Höhe von 5.000 Stück mehrfach nachgedruckt. Begleitet wurden sie natürlich auch von einem neuen Lehrerhandbuch aus der Feder von j. Fr. Ranke.

Es dürfte wohl niemanden verwundern, daß dort die zeitgenössischen Kommentare und didaktischen Hilfen anders lauteten als sie heute im Schulunterricht formuliert würden. Dennoch kann ein Beispiel, etwa die sozial-kategorisierende Zuordnung des Weins als Textkommentar zum Bild der Obsternte und Weinlese, nicht nur zum Schmunzeln, sondern auch zum Nachdenken anregen: "Der Wein erfreut des Menschen Herz, er kräftigt die Kranken. Reiche Leute trinken auch Wein, wenn sie nicht krank sind. Wenn man denselben mäßig trinkt, ist er gesund, besonders für die Leute, welche nicht mit der Hand arbeiten, wie die Bauern und Handwerker, sondern nur denken, sprechen und schreiben, wie der Pastor, der Bürgermeister, der Landrat. Wenn diese nicht Wein trinken, haben sie sehr wenig Hunger und können nur wenig essen. Wer zu viel Wein trinkt, wird betrunken und nach und nach krank."

Die Darstellungen von 1875 blieben motivisch weitgehend unverändert, nur das "Zimmer im Bauernhof" wurde gegen das bis dahin fehlende Jahreszeitenmotiv des Winters ausgetauscht. Die neuen Bilder, etwa die Obsternte und Weinlese, aber auch die nunmehr wilhelminischhistoristische Wohnstube, waren lebendiger als ihre Vorgänger, anschaulicher und "lebensechter", wie die zeitgenössische Kritik betonte. Aber sie blieben zu kleinformatig, was sich als großer Fehler herausstellen sollte. Und sie waren, längerfristig betrachtet, in ihren Abbildungsmustern noch zu sehr älteren Formen verhaftet, so daß mehr und mehr jüngere Wandbild-Serien in den Vordergrund traten, die "moderneren", reformerischen Prinzipien der Bildgestaltung in der Schule verpflichtet waren. Einerseits nahm der Grad der Realistik in der konkreten Darstellung zu, andererseits fanden Bestrebungen einer künstlerischen Verbesserung der Bilder Eingang auch ins Schulwandbild, so daß die letzte Fassung der Wilke'schen Bilder von Heinemann und Toller immer mehr Kritik auf sich zog, Kritik aus der Schule, aus der immer wissenschaftlicher werdenden Pädagogik wie auch aus dem Kunstleben.

Damit wurden "Wilkes Bilder", die ursprünglich ausgesprochene Neuerungen dargestellt hatten, langsam, aber unausweichlich zu Relikten: Sie verloren den Anschluß. Ihre Konzeption bestand von Anfang an in der sogenannten "Stoffgruppierung in Lebensgemeinschaften". Diese zielgerichtet-selektive, visuellanschauliche Darbietung einer ganzheitlichen Lebenswelt auf ländlichagrarischer Grundlage, mit städtisch-bürgerlichem Leitbild und mit der Einbindung in das herrschende politische, gesellschaftliche und moralische System war damit jedoch nicht generell überholt. Diese Konzeption findet sich auch weiterhin in vielfach modifizierter Form.

Von der "Sehnsucht nach dem Leben" zum "Erlebnisangebot'

Nicht nur die Schüler von Carl Wilke sollten mit Hilfe solcher Bilder ihren Standort innerhalb der bestehenden Gesellschaft kennenlernen - und akzeptieren lernen. Daß dies nur über Anschaulichkeit, über die Anregung von Phantasie und Vorstellungskraft sowie über die aktive Aufnahme eines "Erlebnisangebots" vonstatten gehen konnte, wie man dies heute wohl bezeichnen würde, das hat der Taubstummenlehrer und Künstler Carl Wilke wie kaum ein zweiter früh erkannt und mit insgesamt großem Erfolg in die Tat umgesetzt.

Am Anfang stand sein eigenes Schicksal und standen seine gehörlosen Schüler. Für diese, aber nicht nur für sie kündeten Wilkes Bilder von einer "Sehnsucht nach dem Leben", einer Sehnsucht, die sich im Rahmen jeder individuellen Lebensgeschichte in Erinnerung verwandeln konnte. So behielten die Bilder Carl Wilkes, materiell auf Papier gedruckt und unabhängig von ihrer so seltenen Erhaltung, ihre Bedeutung als Bilder in den Köpfen zahlreicher Schülergenerationen. Und so behält auch Carl Wilke seine Bedeutung - und es kann gewiß nicht schaden, sich dies einmal ein wenig ins Bewußtsein zu holen.

KURT DRÖGE