Zum 200. Geburtstag von Karl Heinrich Wilke

Helmut Vogel

Vor genau 200 Jahren ist dieser bekannte Gehörlose auf die Welt gekommen. Aber wer war Karl Heinrich Wilke? Jetzt erfährt Ihr mehr in diesem Artikel über ihn. Ihr könnt euch ein Bild davon machen, weichen Beitrag Wilke für die Gehörlosenpädagogik und die Gehörlosengemeinschaft geleistet hat. Schließlich wird der Landesverband der Gehörlosen Berlin in Zusammenarbeit mit der Deaf History Deutschland am 20. Mai 2000 eine Gedenkveranstaltung mit Vorträgen und einer Ausstellung über Karl Heinrich Wilke abhalten. Karl Heinrich Wilke wurde am 20. März 1800 in Rinow/Brandenburg geboren. Er wurde im zweiten Lebensjahr durch Scharlachfieber ertaubt. 1807 kam er als Schüler in die Berliner Gehörlosenschule an der Linienstrasse. Ernst Adolf Eschke (1766-1811) hatte diese Schule 1788 gegründet und sie bis zu seinem Tod 1811 geleitet. Eschke hatte 1803 seinen ehemaligen Schüler Johann Karl Habermaß (1783-1826) als Lehrer eingestellt. Habermaß wurde so der erste gehörlose Lehrer in der deutschen Bildungsgeschichte.

Karl Heinrich Wilke machte durch sein Betragen und seine Talente auf sich aufmerksam. Sein besonderes Interesse galt dem Zeichnen und Malen. Nach seiner Konfirmation 1817 assistierte er dem Zeichenlehrer Knüpfer im Unterricht. Wilke studierte mehrere Jahre an der Kunstakademie in Berlin. 1820 wurde er durch Fürsprache von Direktor Ludwig Graßhoff, der seit 1811 die Berliner Gehörlosenschule leitete, zunächst als Hilfslehrer für die Grundschulklassen und als Zeichenlehrer eingestellt. Einige Jahre später wurde Wilke als ordentlicher Lehrer übernommen. Er behielt diese Stellung bis zu seiner Pensionierung 1874. Karl Heinrich Wilke verbrachte fast sein ganzes Leben in der Gehörlosenschule und war also 54 Jahre Lehrer und Zeichenlehrer.

Die Beschäftigung von Gehörlosen als Lehrer war keine Seltenheit im 19. Jahrhundert. In Deutschland gehörte Karl Heinrich Wilke zu den mehr als zehn gehörlosen und ertaubten Gehörlosenlehrern. Es wurde damals Wert auf Persönlichkeit und Qualifikation der gehörlosen Lehrer gelegt. Die Hörfähigkeit war noch kein wichtiges Kriterium für die Einstellung dieser Lehrer, wie es nach dem Beschluss der Gehörlosenlehrer für die reinorale Methode beim internationalen Kongress in Mailand 1880 passierte. Weiterhin hing es mit dem Einsatz der kombinierten Methode in vielen Gehörlosenschulen, darunter in Berlin, zusammen. Damals wurde die Gebärdensprache als Basissprache der gehörlosen Kinder von Schülern und Lehrern eingesetzt. Sie wurde auch für die Begriffsentwicklung der Schüler genutzt. Auf dieser Grundlage wurden Lautund Schriftsprache gelehrt. Entscheidend war die Kombination zwischen Gebärden-, Schriftund Lautsprache. Die Gehörlosigkeit und die Gebärdensprache waren von den Gehörlosenlehrern akzeptiert. Die damalige Unterrichtsmethode ist mit der heutigen bilingualen (= zweisprachigen) Methode vergleichbar.

Karl Heinrich Wilke verfasste einige Bilderwerke zur Veranschaulichung des Unterrichts. 1830 erschien ein 'Methodisches Bilderbuch. Ein Wörterbuch für Taubstumme' und 1839 'Sechzehn Bildertafeln für den Anschauungsunterricht'. Gemeinsam mit seinem Kollegen und Freund Reimer verfasste er 1837 das Buch 'Methodische Bildertafeln zum Gebrauch beim Anschauungsunterricht' und 1843 das Buch 'Grammatische Bilderfibel zur Schreiblesemethode'. Diese Bilderwerke fanden weite Verbreitung, da die Gehörlosenlehrer und Grundschullehrer diese für den Unterricht gut gebrauchen konnten. Wilke galt als "Vater des Anschauungsunterrichts in der Taubstummenschule" und war weit über die Grenzen von Preußen bekannt.

Aber nicht nur durch seine fachlichen Verdienste, sondern auch wegen seiner Menschlichkeit war Wilke weithin geachtet. Er zeichnete sich als einen "milden, freundlichen, pflichtgetreuen Mann, [...] unermüdlichen Lehrer und unvergleichlichen Erzieher" aus. So wird er nach seinem Tod 1876 in einem Nachruf von Karl Wilhelm Saegert beschrieben. Saegert hatte 1840 das Amt des Direktors von Graßhoff übernommen und es bis 1858 ausgeübt.

Einen Artikel über Wilke verfasste auch Otto Friedrich Kruse (1801-1880) aus Schleswig. Kruse, im sechsten Lebensjahr ertaubt, war ebenfalls bekannt, da er 55 Jahre lange als Gehörlosenlehrer arbeitete. Er stellte fest: "[Wilke] war und blieb [...] der Nüchternste und Bescheidenste und wandelte, zumal Habermaß gegenüber, der unter seinen Schicksalsgenossen als ein Stern erster Größe glänzte, wie ein Trabant." Zu Wilkes Ausstrahlung und Frömmigkeit meinte Kruse: "Dann mußte das Beispiel ihres Lehrers und Unglücksgefährten, der vor den Schülern so still, sittsam, sittig, unbescholten und gottesfürchtig wandelte, äußerst günstig auf sie einwirken." Wilke hatte tatsächlich eine starke Beziehung zum christlichen Glauben. Ab etwa 1830 hielt er an Sonn- und
Festtagen religiöse Vorträge vor Schülern. Das tat er jahrzehntelang mit anderen Lehrern der Gehörlosenschule.

Karl Heinrich Wilke übte somit Einfluss auf die jüngeren Gehörlosen aus. In den Genuss, von Wilke unterrichtet zu werden, kam auch Eduard Heinrich Fürstenberg. Er lebte von 1827-1885 und gilt noch heute als großer Förderer der Gehörlosenbewegung. Von 1848/1849 an leitete Fürstenberg die ersten Gehörlosenvereine Deutschlands in Berlin und organisierte ab 1867 Kirchfeste für erwachsene Gehörlose. Mehrere hunderte Gehörlose bekamen jedes Jahr Freikarten für die Bahnreise, damit sie an diesen Festen teilnehmen konnten.

Karl Heinrich Wilke war mit einer hörenden Frau verheiratet und Vater zweier hörender Töchter. Die ältere Tochter Marie arbeitete später als Handarbeitslehrerin in der Berliner Gehörlosenschule.
Anläßlich seines 50jährigen Dienstjubiläums wurde Wilke 1870 mit dem Titel 'Ritter des roten Adlerordens IV. Klasse' vom König Wilhelm I., dem späteren Kaiser von Deutschem Reich, ausgezeichnet. 1874 schied er aus dem Schuldienst aus. Nach einer schweren Krankheit starb er am 26. Januar 1876. Bei der Beerdigung in Pankow/Berlin zeigten die ehemaligen Schüler und Lehrerkollegen starke Anteilnahme. Sie beschlossen die Errichtung eines 2,69 m hohen Grabdenkmals aus schlesischem Marmor. Im Nachruf schrieb Karl Wilhelm Saegert in bezug auf die gehörlosen Trauernden: "[Karl Heinrich Wilke] war und wird allen Taubstummen ein leuchtendes Vorbild auf der Bahn des Guten - in Pflichttreue, Strebsamkeit, Herzensreinheit, Liebe, Demut und Bescheidenheit - bleiben."


Literaturverzeichnis:

Landesverband der Gehörlosen Berlin e.V. (Hg.): 150 Jahre Gehörlosenbewegung, Berlin 1998.

Muhs, Jochen: Karl Heinrich Wilke, in: Die Neue für Gehörlose, 1996, Nr. 2, S. 30-31.

Vogel, Helmut: Geschichte der Gehörlosenbildung, in: Grundkurs Deutsche Gebärdensprache, hg. von A. Beecken, J. Keller, S. Priliwitz und H. Zienert, Stufe 1, Arbeitsbuch, Hamburg 1999, S. 46-49.


Weitere Hinweise:

Es gibt eine Sonderausstellung über Karl Heinrich Wilke im Ostfriesischen Schulmuseum in Folmhusen bei Leer, Leerer Str. 7-9. Mehr als dreissig Zeichnungen von Wilke sind in einem schönen Raum zu besichtigen. Es ist am Mittwoch, Freitag und Sonntag zwischen 15-17 Uhr geöffnet und läuft voraussichtlich bis April. Die Terminabsprache ist auch möglich (Telefon/Fax: 04955/4989).

 

Sechs Zeichnungen von Wilke gibt es auf Postkarten zu bekommen. Sie werden mit dem Titel: "Wilke's bunte Bilderwelt" in einer kleinen Mappe und mit den Erläuterungen eines Forschers verkauft. Sie können dort oder bei mir, Helmut Vogel (Fax: 040/382576), bestellen.