„Die Welt mit den Augen verstehen“

zusammengestellt von Liane Boy (gl) und Uwe von Stosch (hd),

herausgegeben von GIB ZEIT

Leseproben

Für jeden hörenden Vater und jede hörende Mutter ist es ein Schock, wenn sie erfahren: Mein Kind ist hörgeschädigt. Es folgen meist Verzweiflung und Ratlosigkeit. An wen soll man sich wenden, bei wem Rat suchen? Natürlich bei Fachleuten, Ärzten, Pädagogen usw. Auf eine Idee kommen die wenigsten: die Betroffenen, also erwachsene Hörgeschädigte, anzusprechen. Dabei sind sie die eigentlichen Experten. Sie haben Erfahrungen gemacht mit der Hörschädigung, mit Ärzten, Hörgeschädigtenpädagogen, verschiedenen Methoden des Unterrichts und der Kommunikation, und sie LEBEN mit der Hörschädigung. 

Gerade in der Anfangsphase ist die Hemmschwelle für hörende Eltern sehr groß. Genau die Hörschädigung ihres Kindes ist es ja, die sie so aus der Bahn geworfen hat. Außerdem erfahren sie sehr früh, dass es moderne Methoden gibt, mit deren Hilfe besseres Hören möglich ist und durch die das eigene Kind in die Welt der Hörenden integriert werden kann. Es muss nicht im Ghetto der gebärdenden Taubstummen verkümmern. Diese Hoffnungen bzw. Ängste und Vorurteile werden oft von den zuständigen Fachleuten verstärkt. Die wenigsten Experten raten/ ermöglichen Eltern eine Begegnung auch mit gehörlosen Erwachsenen.

Erwachsene Hörgeschädigte empfinden Zuneigung und auch Verantwortung für hörgeschädigte Kinder - weniger, weil sie die gleiche Behinderung, sondern vielmehr weil sie die gleiche Sprache und Mentalität haben. In einem amerikanischen Roman wurde einmal der große Kindertausch vorgeschlagen: Gehörlose Eltern geben ihre hörenden Kinder hörenden Eltern, und vor allem umgekehrt. Dann wäre die Welt doch wieder in Ordnung. Das war natürlich nicht ernst gemeint - man liebt doch schließlich sein Kind, unabhängig vom Hörstatus. Die überspitzte Darstellung verdeutlicht nur die Notwendigkeit, die hörende und die gehörlose Welt zusammenzuführen.

Die Initiative „GIB ZEIT“ (Gemeinsame Initiative: Begegnung – Zukunft durch Erfahrungs- und Informationsaustausch mit Teilnahme Gehörloser) bietet hörenden Eltern jetzt Erfahrungsaustausch und Unterstützung an. Begegnungen gehörloser Kinder mit gehörlosen Erwachsenen, die ihr Leben mit der Gehörlosigkeit meistern, glücklich, zufrieden und fröhlich sind, wirken oft Wunder. Außerdem soll Eltern die Möglichkeit gegeben werden, kommunikativ Anschluss an die Gemeinschaft der Gehörlosen – und ihr eigenes Kind – zu finden.

Persönliche Kontakte sind für diesen Zweck natürlich unabdingbar. Für alle, die entweder vorab einmal in den Erfahrungsschatz hörgeschädigter Menschen hineinschnuppern wollen oder aber ihre Kenntnisse vertiefen wollen, hat GIB ZEIT eine Sammlung von Erfahrungsberichten von Hörgeschädigten aller Schattierungen und ihrer Eltern zusammengestellt und in Buchform herausgegeben. In dieser komprimierten Form ist die Sammlung ein absolutes Novum. Unübersehbar, dass das Buch im Eigenverlag erschienen ist und auf privater Initiative basiert. (Warum eigentlich haben Hörgeschädigten- oder Lehrerverbände  so etwas noch nicht auf die Beine gestellt?)  Die laienhaften Zeichnungen wirken sympathisch, und auch die manchmal holprigen Übersetzungen aus dem Englischen verzeiht man den Herausgebern gerne. Perfektion ist sicher weniger von Bedeutung als der sachliche und auch der emotionale Gehalt.

Letzterem kann man bei der Lektüre des Buches nicht ausweichen, zumindest dann nicht, wenn man in irgendeiner Weise betroffen ist. „Für das, was wir unserem Kind nach dieser Diagnose antaten, schäme ich mich,“ schreibt da die Mutter eines gehörlosen Kindes. Wer an dieser Stelle mit den Tränen kämpft, braucht sich sicher nicht zu schämen. Persönliche, geradezu intime Erfahrungen kommen hier zum Ausdruck, die die nicht hörgeschädigten Profis einfach nicht haben können. Und der Erfahrungsschatz ist durchaus nicht gleichförmig. So unterschiedlich hörgeschädigte Persönlichkeiten sind, so unterschiedlich sind auch ihre Erfahrungen.

Nun gibt es ja Familien, in denen die Eltern entweder selbst gehörlos oder hörende Kinder gehörloser Eltern sind. In diesen Ausnahmesituationen entfällt der Schock, und es kann direkt auf die Lebenserfahrungen und kommunikativen Fähigkeiten der Eltern- bzw. Großelterngeneration zurückgegriffen werden. So berichtet eine Mutter (hörend, Eltern gehörlos), dass ihre Tochter ganz natürlich ab dem 2. Monat die Gebärdensprache erlernt habe. Einziger Nachteil: dass sie überwiegend auf Erwachsenenkontakte angewiesen war, da ihre Altersgenossen ihr sprachlich nicht gewachsen waren. Und dann kommt irgendwann die Frage eines Arztes: „Na, sagen Sie mir, wann haben Sie gedacht, die Gebärdensprache zu den Akten zu legen, damit das Kind sprechen lernen kann?“ In solchen Situationen sind dann Eltern ohne Vorkenntnisse sicherlich völlig orientierungslos und überfordert.

In der Phase des Schmerzes fällt es hörenden Eltern schwer, zu akzeptieren, dass Gehörlose „realer Bestandteil einer so gewollten Regenbogenspanne der Menschheit“ sind. Sie empfinden die Taubheit vielmehr zunächst als Defizit, das irgendwie beseitigt werden muss, ob nun per CI, hörgerichtete Erziehung oder wie auch immer. Umso verblüffender sind dann oft die Erfahrungen von Eltern (auch dann, wenn ihre Kinder bereits Jugendliche sind), wenn sie an Veranstaltungen Gehörloser teilnehmen. So berichtet ein hörender Vater davon, dass durch die Begegnung mit Gehörlosen in einem Ferienlager sein Welt- und Menschenbild total umgekrempelt worden sei. Und er ist dankbar dafür, da er auch einen ganz anderen und neuen Zugang zu seinem eigenen Kind gewonnen hat.

Die Frage der Identität lauert immer im Hintergrund. Mark Drolsbaugh formuliert sie so:

„Jedem Kind, wenn es zahlreichen audiologischen Tests und Prozeduren unterzogen wird, wird die versteckte Botschaft gegeben, dass Gehörlosigkeit schlecht ist.. Das Kind wird den Rest seines Lebens damit verbringen, zu denken „Gehörlosigkeit ist schlecht, ich bin gehörlos, deshalb bin ich schlecht, deshalb muss ich so sehr wie möglich eine hörende Person sein.“ Können Sie sich die Folgen vorstellen, wenn Sie ihr ganzes Leben versuchen würden, jemand zu sein, der Sie nicht sind?“

Gerade die Akzeptanz des Hörschadens als – auch positiver! - Bestandteil der eigenen Persönlichkeit bereitet vielen Hörgeschädigten große Mühe.  Besonders in Berichten von Schwerhörigen wird das deutlich. Sie sehen in ihrem (Hör-)Status fast nur Negatives, beklagen, dass niemand ihre kommunikativen und sozialen Nöte nachvollziehen könne und würden es z.T. vorziehen, gehörlos zu sein. Der Zustand ist wenigstens eindeutig, und man weiß, wohin man gehört. Als Schwerhöriger gehört man weder in die Welt der Gehörlosen noch in die der Hörenden. „Ein Pendeln zwischen den Welten, und dies immer in Anspannung und Resignation und Hoffnung. Schwerhörigkeit – kein erstrebenswerter Zustand!“

Betrachtet man unter diesem Aspekt das CI, das aus Gehörlosen bestenfalls Schwerhörige macht, so wird die dahinter stehende Philosophie umso fragwürdiger. „Klar, die Gehörlosen sind gegen das CI!“ wird jetzt mancher denken. Weit gefehlt! Es kommen durchaus auch positive Erfahrungen mit dem CI zur Sprache. Und die Entscheidung pro oder contra CI für ein gehörloses Kind bleibt natürlich die der Eltern. Kinder, die zum ersten Mal Vögel singen hören können, rühren schon ans Herz – von der Sprachentwicklung einmal ganz zu schweigen. Aber da Eltern „leichte Beute der Chirurgen“ werden, sollten sie auch andere Aspekte in ihre Überlegungen mit einbeziehen.

Von großer Bedeutung sind die Schilderungen von spätertaubten CI-Trägern, die ja den Vergleich von vorher und nachher vornehmen können. Wenn die tosende Brandung zum grauslichen Scheppern tausender kleiner Metallplättchen wird, fragt man sich schon, wie weit die Verheißungen der Werbungen („für einen natürlichen Klang“) von der Wirklichkeit entfernt sind.

Und eine „Vorführ-CI-Trägerin“ stellt fest:

„Das CI soll meiner Meinung nach Ertaubte und Gehörlose nur „normaler“ machen, besser integrierbar. Zu diesem Zweck werden in Menschen Metallteile eingebaut, wir werden an Maschinen angeschlossen, sind auf Batterien angewiesen und auf ein Krankenhaus, das uns „technisch versorgen kann“! Das ist doch pervers!“

Sie entscheidet sich daher nach Jahren des „erfolgreichen“ Tragens gegen das CI: „Ich bin jeden Tag die Gleiche – nicht mehr den Defekten eines Apparates ausgeliefert. Jetzt fühle ich mich als „ich“, fühle mich frei zu tun, was ich will.“

Wohl gemerkt: Es gibt keinen unkritischen CI-Verriss. Aber was sonst verschwiegen wird oder zu kurz kommt, wird deutlich gesagt: Enttäuschungen, soziale Probleme, medizinische Komplikationen, Reimplantationen – schon wert, in elterliche Überlegungen einbezogen zu werden.

Zum Abschluss kommt eine Logopädin zu Wort, die sich gar nicht an die Spielregeln hält und durchaus Kritisches äußert – sehr zum Unwillen ihrer KollegInnen. Aber wer wollte ihr widersprechen wenn sie feststellt:

„Die wichtigste Erfahrung für ein Kind sollte sein, so angenommen zu werden, wie es ist, das ist mit Sicherheit die schwierigste Aufgabe für Eltern (und Lehrer) hörgeschädigter Kinder – und sie dauert meist ein Leben lang.“

Genau dabei wollen GIB ZEIT und das Buch „Die Welt mit den Augen verstehen“ behilflich sein. Eltern sollten sich die Lektüre nicht entgehen lassen, und die Professionellen, die oft betonen, sie wollten ja auch nur das Beste und würden von den Betroffenen ungerechterweise auf das andere Ufer befördert – hier haben sie die Chance, Einblicke zu gewinnen, die ihnen in ihrem Studium nicht vermittelt wurden, ohne die sie ihrer Aufgabe aber kaum gerecht werden können.

Leseproben

Rezension: Bernd Rehling

Bestelladresse:

GIB ZEIT im Landeselternverband Dt. Gehörlosenschulen NRW e.V.
Kerckhoffstr. 100
45144 Essen
Tel.: 0201-755609
Fax: 0201-754618
email: gibzeit@gmx.net

Verkaufspreis: 12,00 DM (zzgl. Versandkosten)