Gebärde, Baby, gebärde!

von Kristin Snoddon
- Übersetzung: Lukas Huber und Bernd Rehling -

Marilyn Daniels unterrichtet Paul DeMarco (fünf Monate) aus Woodstock, Vermont.

Neue Untersuchungen zeigen, dass das Unterrichten der Gebärdensprache bei hörenden Babys ihre Sprache, ihren Wortschatz und ihre Lesefähigkeiten während ihrer Entwicklung erhöhen. Dr. Marilyn Daniels, Professorin für Sprachkommunikation an der Pennsylvania State University und Autorin des Buches „Mit Wörtern tanzen: Gebärden für Sprachaufbau und Lesefähigkeit hörender Kinder“ (Signing for Hearing Children’s Literacy), steht in vorderster Reihe dieser Untersuchung.

Dr. Daniels ist eine der wenigen in diesem Bereich arbeitenden Forscherinnen, die propagiert, dass Babys eine nationale Gebärdensprache lernen statt erfundener Gesten oder „Hausgebärden“. Sie zieht es vor, hörenden Babys die Amerikanische Gebärdensprache (ASL) beizubringen, weil sie eine anerkannte Sprache ist: „In den Vereinigten Staaten ist die ASL akzeptiert und erfüllt die Anforderungen für Fremdsprachen an den Schulen vieler Staaten und in den meisten Akademien und Universitäten. Warum also sollte man nicht einem hörenden Baby oder Kind Wörter beibringen, die es später in seiner Schullaufbahn anwenden kann? Wenn Sie ASL-Gebärden unterrichten, geben Sie den Kindern einen Vorsprung in einer bilingualen Erziehung.“

Dr. Daniels weist auch darauf hin, dass hörende Kinder, die in der ASL gewandt sind, mit gehörlosen Kindern und Erwachsenen kommunizieren können. Der wichtigste Punkt ist, dass die ASL eine echte Sprache ist, sie daher zur kindlichen Entwicklung besonders beitragen kann: „Da die ASL eine richtige Sprache ist, wird sie in einem gesonderten Bereich des Gehirns eines Babys oder Kindes gespeichert. Das geschieht schon während der ersten Phasen des Spracherwerbs.“ Wenn hörende Babys Gebärdensprache lernen, entwickelt sich ihr Gehirn weiter als das der Babys, die keine zweite Sprache lernen. Dr. Daniels erklärt: „Studien zeigen, dass sogar, wenn Menschen sich im Anfangsstadium des Erwerbs einer zweiten Sprache befinden, ihr Vokabular nicht in einem bestimmten Bereich ihres Gedächtnisses gespeichert wird“, also im gleichen Bereich des Gehirns wie die erste Sprache dieser Person. „Das bedeutet, dass Babys oder Kinder, die mit der ASL oder Vokabeln der ASL unterrichtet wurden, einen zusätzlichen Platz für die Suche und den Abruf in ihrem Gehirn haben.“

Das Lernen der ASL fördere auch die Entwicklung des Gehirns bei hörenden Babys, sagt Dr. Daniels, weil „die ASL die Augen in höherem Maße nutzt als jede gesprochene Sprache. Die Augen entwickeln sich bei kleinen Kindern früher, und wenn man Informationen mit den Augen aufnimmt, nutzt man die rechte Gehirnhälfte.“ Alle Sprachen werden in der linken Gehirnhälfte gespeichert, aber wenn Babys Gebärdensprache lernen, werden sowohl die linke als auch die rechte Gehirnhälfte genutzt. „Das ist ein wunderbarer Vorteil, weil man beide Hemisphären des Gehirns nutzt und mehr Synapsen  im Gehirn aufbaut“, sagt Dr. Daniels.

Im Allgemeinen scheint die Gebärdensprache wie für junge Kinder geschaffen zu sein. „Die motorischen Körperteile reifen früher als der Mund und andere Artikulationsorgane heran“, sagt Dr. Daniels. Das bedeutet, dass den Kindern das Lernen und das Erinnern von Gebärden leichter fällt als der Erwerb gesprochener oder geschriebener Sprachen. „Kinder lieben es, Gebärden zu benutzen“, fügt sie hinzu. „Sie sind aufmerksamer wegen der Bewegungen; sie werden mehr einbezogen. Sie sind in den Lernprozeß einbezogen und daran interessiert.“

Für Eltern und Lehrer, die mit der Erziehung und Bildung hörender Kinder zu tun haben, ist die Untersuchung von Dr. Daniel am wichtigsten, weil sie zeigt, dass die Benutzung der Gebärdensprache von der frühesten Kindheit bis zur 6. Klasse die Sprachkompetenz steigert. Die Kinder, mit denen sie gearbeitet hat, verfügen über ein besseres Erkennen von Buchstaben und Lauten, eine bessere Rechtschreibung und einen größeren Wortschatz im Englischen als Kinder, die nicht in Gebärdensprache unterrichtet wurden.

Für Gehörlose und Eltern und Lehrer gehörloser Kinder liegt das Interessante an der Untersuchung von Dr. Daniel nicht nur in der Unterstützung für die Gebärdensprache, sondern auch in den Folgerungen in Bezug auf die beste Methode für den Unterricht gehörloser Kinder. Viele Ärzte, Audiologen und Gehörlosenlehrer behaupten, dass ein strikter auditiv-oraler Weg die beste Erziehungsmethode für gehörlose Kinder sei. Die meisten Cochlear-Implant-Spezialisten behaupten, dass es das Ziel der Implantation bei Babys und Kindern sei – gefolgt von Jahren intensiver auditiv-oraler Therapie – den Spracherwerb zu unterstützen.

 „Die Vorstellung, dass gehörlose Kinder das Sprechen nicht lernen würden, wenn sie in Gebärdensprache unterrichtet werden, bevor sie Englisch oder die Sprache ihres Landes lernen, ist eine sehr alte, überholte Position“, setzt Dr. Daniels dem entgegen. „Ich würde dieser Sichtweise entschieden widersprechen.“

Tatsächlich hat sie herausgefunden, dass hörende Kinder, die Gebärden benutzen, besser sprechen und bessere Kommunikationsfähigkeiten haben als diejenigen, die nicht gebärden. „Meine Forschungsergebnisse zeigen, dass orale Fähigkeiten gesteigert würden, wenn die einheimische Gebärdensprache zuerst unterrichtet wird,“ sagt sie. „Gehörlose Babys, die zuerst das Artikulieren gelernt haben, haben oft noch immer keine Sprache zum Denken oder für zwischenmenschliche Kommunikation.“

 „Alle Menschen benötigen eine Sprache zur Kommunikation, aber sie brauchen auch eine Sprache zum Denken, um Informationen zu verarbeiten. Sprechen und Sprache sind zwei völlig verschiedene Dinge. Gehörlose Babys benötigen die Gebärdensprache; es ist ihre natürliche Sprache, und sie sollte eingeführt werden, bevor sie in Englisch oder Schwedisch unterrichtet werden.“

Quelle: WFD-NEWS Mai 2000 S. 16
http://www.la.psu.edu/speech/faculty/daniels_article.htm

Homepage von Dr. Marilyn Daniels: http://www.marilyndaniels.com/

Kristin Snoddon ist Praktikantin im Generalsekretariat des Weltverbandes der Gehörlosen (WFD) in Stockholm (Schweden).

(© Marilyn Daniels)