Hörgeschädigte und Internet

Liebe Kolleginnen und Kollegen,

ohne jede Vorrede möchte ich Ihnen das "optimale Internet" für Hörgeschädigte vorstellen. In Korea wird die Domain www.deaf.tv betrieben. Dort wird bereits das realisiert, wovon der Rest der „deaf world“ noch träumt: Die neuesten Nachrichten gibt es per Gebärdensprache.

Gebärdensprache

Um es vorweg zu nehmen: Zwei kleine Häkchen hat diese Form der Nachrichtenübermittlung:

Beides sind aber „nur“ technische Probleme. DSL ist ohnehin auf dem Vormarsch, und auch die Fenstergröße wird irgendwann technisch gelöst sein.

Die gigantischen Vorteile sollte man sich allerdings klar machen:

Problematisch ist die grundsätzliche ideologische Frage: Klinken Gehörlose sich mit Gebärdensprachangeboten aus dem Internet aus? Bilden sie auch im Internet eine „Subkultur“? Setzt sich die „Segregation“ im Internet fort? Dass viele Gehörlose von Gebärdensprache auch im Internet träumen, ist klar. Nicht ohne Grund haben sich viele Gehörlose Webcams zugelegt. Es gibt sogar eine spezielle Website als Zentrale für Webcambesitzer: http://www.deaf-webcams.de. Obwohl die Qualität der Videoübertragung oft noch zu wünschen übrig lässt, sind „Augenmenschen“ natürlich ganz versessen darauf. Es ist halt IHR Medium – der visuelle Kanal.

Schriftsprache

Dabei hatte das Internet als schriftbasiertes Medium angefangen, und das ist es ja auch heute noch überwiegend. Gerade darin sah man die große Chance für Hörgeschädigte: Anders als bei Rundfunk und Fernsehen spielt der akustische Kanal keine Rolle, und über die Schriftsprache sind Hörgeschädigte genauso integriert wie Hörende. Sind sie es wirklich? Gehörlosenpädagogen brauche ich wohl nicht zu erläutern, welche Probleme viele Hörgeschädigte gerade mit der deutschen Sprache (ich vermeide den Begriff „Lautsprache“) haben. Ich will Ihnen aber zur Verdeutlichung ein kleines Beispiel schildern. Die Anzeigen-Rubrik im Taubenschlag erfreut sich großer Beliebtheit. Sie wird mit Sicherheit intensiver genutzt als beispielsweise die Rubrik „Rezensionen“. Nun war es gelegentlich zu Missbrauch gekommen, in der Form, dass jemand im Namen eines anderen eine Anzeige aufgegeben hat. So etwas kann lästig und peinlich sein. Wir haben also Sicherheitsvorkehrungen getroffen. Nach dem Aufgeben einer Anzeige wird eine Email an die angegebene Adresse geschickt. In dieser Email braucht nur ein link angeklickt zu werden, um die Anzeige frei zu schalten. Die Texte sind sehr stark vereinfacht:

Diese Anzeige ist noch NICHT im Taubenschlag. Klicken sie einmal auf diesen
Link:

http://www.taubenschlag.de/anzeigen/freischalten.php3?id=5601&adkey=nyAvscu6IavpqWbG0b09

JETZT kommt die Anzeige in den Taubenschlag.

Dennoch bekommen wir täglich Hilferufe, oftmals wortlos in Form der Weiterleitung der Freischaltungsmail. Fazit: Viele Gehörlose können die einfachsten Texte nicht entziffern. Diese Erkenntnis ist nicht gerade neu. Wenn man sich jedoch vergegenwärtigt, dass das Internet fast ausschließlich textorientiert ist, muss man zu dem Schluss kommen, dass es für Gehörlose ungeeignet ist.

Dieser Rückschluss ist natürlich überpointiert. Die Tatsache, dass bei Hörgeschädigten die Nutzung des Internets sehr beliebt ist, lässt anders herum den Schluss zu, dass sie sehr wohl einen Nutzen daraus ziehen. Aber welchen? Wird das Internet nur à la BILD-Zeitung bzw. wie ein Bilderbuch genutzt?

Nutzen

Um mit dem zu beginnen, was Sie alle und mich als Pädagogen am brennendsten interessieren dürfte: Bietet das Internet nicht die Chance, Sprachauf- und ausbau zu intensivieren? Bietet es nicht ungeahnte Lernmöglichkeiten.

Ich möchte Ihnen vorab einen geradezu rührenden Auszug aus einer Email zeigen:

Hallo !

Ich möchte Deutsch lernen, da ich problem beim deutschsatz. Nun frage ich, wo kann man CD-Rom fur deutsch zum lernen und was kostet die ?
Mein E-Mail lautet Doktorfisch@aol.com
M.F.G. R.

Von so hoch motivierten Schülern können Lehrer zumeist nur träumen. Ob nun per CD oder per Internet: Dort lernt nur, wer es wirklich WILL. Kann sein, dass durch die permanente „Berieselung mit Sprache“ auch das eine oder andere „hängen bleibt“. Diese Effekte dürften jedoch relativ gering sein.

Es gibt aber vielfältige Möglichkeiten, das Internet gezielt für Bildungszwecke zu nutzen. Gerade hier in Schleswig-Holstein gibt es ja Projekte mit Vorreiterfunktion, die (Lehrer-) Fortbildung Online zum Beispiel. Auch die neue Rechtschreibung kann man online erlernen bzw. üben. Nicht nur Fernuniversitäten bieten online-Studiengänge an. Sie gehören mittlerweile zum Standardangebot von Universitäten. Aber WAS gibt es für Hörgeschädigte? Kurz gesagt: NICHTS! - Nun spiele ich die Rolle des ständigen Mahners zwar schon länger, aber „je länger, je UNlieber“! Ich beschränke mich auf den Hinweis: Möglichkeiten gibt es mehr als genug, Technik und Software stehen parat, es muss halt nur jemand machen.

Aber kommen wir zurück zu der Frage: Welchen Nutzen hat das Internet für Hörgeschädigte - zusätzlich zu dem Nutzen, den auch Hörende haben? Statt zu theoretisieren zeige ich Ihnen einfach einmal einige Beispiele.

Beginnen wir mit „Taubenschlag & Co“:

Es gibt mittlerweile eine kaum noch zu übersehende Vielzahl von „deaf sites“, d.h. von Websites von Hörgeschädigten und für Hörgeschädigte. Selbstverständlich hat mittlerweile fast jeder Verband und Verein seine eigene Homepage, ob nun die Deutsche Gesellschaft, der Deutsche Gehörlosenbund, der Schwerhörigenbund, der Deutsche Gehörlosen-Sportverband – um nur einige Große zu nennen. Natürlich haben auch die gehörlosen Pferdefreunde, Sporttaucher, Biker, Mountainbiker usw. ihre eigenen Seiten. In der „Vor-Internetzeit“ hat man kaum geahnt, was es so alles gibt. Heute hat jeder selbstverständlich Zugang zu allen Informationen, wie speziell sie auch sein mögen. Außerdem gibt es natürlich noch die privaten Homepages. Mittlerweile auch unübersehbar viele. Jeder kann sich, sein Hobby, seinen Sport und seine Ansichten öffentlich präsentieren. Und wenn es denn erklärtermaßen eine deaf site ist, repräsentiert sie natürlich auch DIE Hörgeschädigten schlechthin. Das kann für das Image der Hörgeschädigten problematisch werden, wenn eine Website die sprachlichen Defizite des Webmasters offenbart. Hörende, die über das Internet so zum ersten Mal Kontakt zu Hörgeschädigten haben, gewinnen den Eindruck, es handle sich um geistig Minderbemittelte. Grundsätzlich ergibt sich die Frage, ob zum Slogan „It's OK to be deaf!“ auch die sprachliche Behinderung gehört. In diesem Sinne kann man natürlich wie die Zeitschrift „selbstbewusst werden“ ganz bewusst Korrekturen durch Hörende ablehnen und sich zu seiner Behinderung bekennen, wie z.B. www.glkunst.de. Zu diesem Motto steht man auch auf professionell gestalteten und inhaltsschweren Seiten wie www.kugg.de (Kultur und Geschichte Gehörloser).

Neben dem Bildungs- und Informationsbereich sind aber noch ganz andere Bereiche von Bedeutung. Der Taubenschlag wird von vielen als Beratungsinstitution genutzt. Man traut uns schlichtweg alles zu. Nur um Ihnen ein paar Beispiele zu geben:

vielleicht können sie mir weiterhelfen bei folgendem Problem. Meine Schwester ist taubstumm und körperbehindert und wird sich auf Dauer vermutlich nicht selbst versorgen können. Nun meine Frage: Können sie mir Adressen von Wohngemeinschaften in NRW für Taubstumme nennen?

meine Freundin Sia aus Bulgarien, wohnhaft in Hilden bei D'dorf, NRW, bekommt bald Besuch aus der Heimat von ihrem taubstummen Neffen.
Können Sie uns evtl. ein paar Adressen vermitteln, an die sie sich wenden kann zwecks Freizeitgestaltung mit dem jungen Mann? Für unsere grosse Benefiz-Veranstaltung am 10. August 2002 in Mannheim suchen wir eine/n Gebärdendolmetscher/in für das Bühnenprogramm.

Können Sie uns mitteilen, an wen wir uns wenden können? Wie lange braucht ein 34 jähriger um die Gebärdensprache zu erlernen? So in etwa?
Kurz zu meiner Person. Ich bin 34, schwerhörig, Fischzüchter im Raum
Göttingen der mit dem Menetekel leben muß, vielleicht mal ganz gehörlos zu sein.
Ich bin heute, bzw. schon seit Jahren unsicher mit anderen Menschen zu sprechen,
weil ich Sie und mich nur unvollständig verstehe.
Gebärdensprache empfinde ich als sehr elegante Methode und vielleicht gute
Möglichkeit.

Sie sehen, da ist schon einiges dabei, was unter die Haut geht. Soweit wir können, helfen wir. Ansonsten bemühen wir uns, auf kompetentere Institutionen hinzuweisen. Und auch in den Diskussionsforen gibt es Beratungsmöglichkeiten.

Die Vielfalt anderer Nutzungsmöglichkeiten wie persönliche Kontakte per Email, über Messenger à la ICQ, MSN Messenger usw. will ich hier nur am Rande streifen. Selbst Telefonvermittlung für Hörgeschädigte findet heute per Internet statt. Bezieht man dann noch Online-Spiele usw. mit ein, scheint die Frage nahe zu liegen, ob es denn noch nötig sei, außerhalb des Internets zu leben. Diese Frage ist natürlich nur scherzhaft gemeint. Sie verdeutlicht aber, welch gewaltigen Stellenwert das Internet für viele Hörgeschädigte bekommen hat. Reales und virtuelles Leben sind miteinander verknüpft, und Computer und Internet erfüllen ihre Funktion dann, wenn sie zur Gestaltung des realen Lebens beitragen.

 

Instrument

Der instrumentelle Charakter des Internets wird besonders da deutlich, wo es zu einem Kampfinstrument gegen Diffamierungen und Diskriminierungen wird. Nicht ohne Grund hat unsere Website den Namen TaubenSCHLAG. Inzwischen gibt es eine ganze Reihe von Fällen, in denen er als SCHLAG-Instrument eingesetzt wurde. Am bemerkenswertesten ist wohl der „Fall“ der Pharmafirma Wyeth, die mit dem diskriminierenden Slogan „taub macht stumm“ warb. Natürlich war es der Kampf Davids gegen Goliath. Was kann man schon gegen einen millionenschweren Pharmakonzern ausrichten? Täglich zwischen 1000 und 2000 Besucher stellen aber schon eine gewisse Öffentlichkeit dar. Das kann abträglich für das Firmenimage werden. Und wenn dann auch noch eine Vielzahl von Verbänden, kirchlichen Organisationen und Privatpersonen an einem Strang ziehen, dann kann auch ein Pharmagigant sich ein wenig unwohl fühlen. Die unschlagbare Stärke des Mediums Internet bestand eben in der universellen Erreichbarkeit und vor allem in der Aktualität. Kein anderes Medium kann so schnell reagieren wie das Internet. Zusammen mit einer Eingabe beim Werberat der Deutschen Wirtschaft wurde schließlich erreicht, dass Firma Wyeth einen Rückzieher machen musste. - Im Gegensatz zum Slogan „BILD kämpft für Sie“ kämpfen wir „Taubenschläger“ allerdings in eigener Sache. Aber es sind nicht nur die großen Dinge, für die gekämpft werden muss. Dass eine Krankenkasse erst nach Veröffentlichung im Taubenschlag ihre Meinung ("Lichtblitze kann man ja beim Schlafen nicht sehen") revidiert und die Notwendigkeit eines Lichtweckers eingesehen hat war für die betroffene Gehörlose ein voller Erfolg. Und manchmal sind nicht einmal Kämpfe erforderlich. Da genügen schon Hinweise und Informationen. So hat unser Hinweis auf einen Relay Service in den USA, der per Internet arbeitet, dazu geführt, dass ein ähnlicher Dienst von Vogels & Berger in Deutschland eingeführt wurde.

 

Tendenzen und Visionen

Die große Internet-Euphorie ist mit dem Niedergang der New Economy dahin geschwunden. „Das deutsche Web stagniert“ konstatiert der SPIEGEL in einem Artikel. Davon sind natürlich auch die deaf sites nicht unberührt geblieben. Die Website, die weltweit die bekannteste und eine der ersten war, www.deafworldweb.org, existiert nicht mehr. Auch in der deutschen Szene haben sich Wandel vollzogen. Die erst deutsche deaf site www.gehoerlos.de ist auf eine einzige Seite mit Terminen geschrumpft, www.hoerbehinderten-info.de gibt es seit langem nicht mehr, www.deafpoint.de stagniert seit Jahren, der shooting star www.planetdeaf.de hat eigentlich nur ein halbes Jahr lang existiert, war dann zu einer Partysite verkümmert und verkündet seit längerem: Planetdeaf is coming soon .-)))) . Andere Websites werden dafür neu gegründet, und wie im „richtigen Leben“ ist es halt ein ständiges Kommen und Gehen.

Bei vielen Webmastern stellt sich nach relativ kurzer Zeit eine Ernüchterung ein. Sie stellen fest, mit wie viel Arbeit solch eine Website verbunden ist. Man kann sie nur dann am Leben erhalten, wenn möglichst täglich Neues präsentiert werden kann. Eigentlich kann man so etwas hobbymäßig gar nicht schaffen. Wie hauptamtliche Mitarbeiter bezahlt werden sollten, steht allerdings in den Sternen. Für Taubenschlag & Co hätten wir noch viele gute Ideen. Wir könnten Pädagogen gebrauchen, die Online-Lernprogramme erstellen. Wir könnten bei www.deaftv.de Nachrichten in Gebärdensprache präsentieren - so, wie es die Chinesen jtzt schon tun. Wir könnten Kontakte zum Ausland intensivieren . …Technisch ist das alles kein Problem. Hard- und Software haben wir, aber leider nicht das Personal.

Das ist schon ein krasser Gegensatz: Das Medium Internet ist von seinem Potential her allen anderen Medien überlegen, aber es verfügt nicht über die erforderlichen finanziellen und personellen Ressourcen. Es leidet darunter, dass es gratis ist. Damit ist es zwar vorbildlich sozial, in seinen Entwicklungsmöglichkeiten aber doch sehr eingeschränkt. Optimal wäre die Verschmelzung aller Medien. Oder umgekehrt ausgedrückt: Die künstliche Trennung von Internet, TV und Printmedien sollte aufgehoben werden. Sie sollte nicht nur, sie wird es zwangsläufig. Sowohl hardware- als auch softwaremäßig ist die Entwicklung gar nicht mehr zu bremsen. Nehmen wir nur ein Beispiel von vielen, eines, das so ganz nebenher auch für Hörgeschädigte von Bedeutung ist: TV wird auf Festplattenrecordern oder gleich auf dem Computer aufgezeichnet. Programme der Sender werden vollautomatisch mit Software à la TVgenial aus dem Internet herunter geladen. Die Programmübersicht auf dem Rechner bietet dann diverse Möglichkeiten: Das Setzen von Favoriten samt Erinnerungsfunktion, die Volltextsuche (in welcher Zeitschrift können Sie das schon?) und die automatische Programmierung für die Festplattenaufnahme. Und wenn Sie als Hörgeschädigter eine Übersicht aller untertitelten Sendungen haben wollen, lassen Sie sie automatisch erstellen und ausdrucken. Womit TV, Internet und Printmedium an dieser Stelle miteinander verschmolzen sind - und Hörgeschädigte eine Spezial-Programmübersicht in Händen halten, die es nirgendwo zu kaufen gibt.

Medien, die sich taub stellen und so tun, als gäbe es das Internet nicht, werden zwangsläufig dazulernen oder aber weichen müssen. Zeitschriften, die nur mit Wochen Verspätung das bringen, was ohnehin schon im Internet zu sehen war, machen sich selber überflüssig. Ganze Bereiche wie z.B. die Kleinanzeigen verschwinden mehr und mehr aus den Printmedien. TV-Sendungen können per Internet ein weltweites Publikum erreichen, und Schulen und Universitäten werden rund um die Uhr und rund um den Globus erreichbar sein. Alles das natürlich nicht als Ersatz für die reale Welt, sondern zu ihrer Optimierung. So gesehen können wir als Hörgeschädigte nur feststellen: Nie vorher hatten wir derart umfassende Informations- und Kommunikationsmöglichkeiten, und nie vorher gab es so viel versprechende Perspektiven.