Sprachbarrieren

Sehr geehrte Damen und Herren,

dass Körperbehinderte und Blinde besondere Bedürfnisse haben, was den Internetzugang betrifft, leuchtet auf Anhieb ein. Da ist halt nur die Frage, WIE man Barrieren überwinden oder vermeiden kann. Bei Hörgeschädigten kommt aber niemand auf die Idee, DASS es für sie Barrieren geben könnte. Das Internet ist ein schriftsprachbasiertes Medium, und lesen können Gehörlose doch! Wenn Sie sich in der Presse umsehen, werden Sie feststellen, dass genau das die vorherrschende Meinung ist. Wenn von "Barrierefreiheit für Blinde und Taube" die Rede ist, dann wird lang und breit über Blinde geschrieben. Die Tauben werden nur am Rande erwähnt, und die wahren Defizite und Bedürfnisse dabei nicht einmal erkannt. (Beispiel: Internet ohne Barrieren: http://www.nzz.ch/2002/11/01/em/page-article8HSL9.html)

Da meine Redezeit auf 20 Minuten beschränkt ist, ist es schwer, falsche Einstellungen bzw. Unkenntnis zu beseitigen. Ich muss das also wohl recht drastisch und eindringlich tun. Ich beginne mit zwei provokanten und scheinbar widersprüchlichen Thesen:

So widersprüchlich sie zu sein scheinen: BEIDE Thesen sind richtig. Diese Ambivalenz kennzeichnet geradezu das Leben Hörgeschädigter.

Nun muss man natürlich differenzieren. Es gibt eine große Bandbreite von Hörschädigungen, von leicht schwerhörig bis gehörlos. Je gravierender der Hörschaden, desto schwieriger wird auch der Spracherwerb. Aber auch bei Gehörlosen gibt es immense Unterschiede: vom vollsprachigen Akademiker bis hin zum "Analphabeten". Ich gehe hier zur Vereinfachung einmal von "Otto-Normal-Gehörlos" aus, d.h. von einem fiktiven Gehörlosen, der normal intelligent ist, die Laut- und Schriftsprache aber nur sehr eingeschränkt beherrscht. Ich will Ihnen ein Beispiel geben:

Im Diskussionsforum http://www.gl-cafe.de unterhalten sich Gehörlose in der ihnen zur Verfügung stehenden Schriftsprache. Ich will hier Gehörlose nicht "vorführen". Aber wenn Sie ein Feeling für die sprachlichen Probleme Gehörloser bekommen wollen, dann stöbern Sie einfach mal in diesem Forum. Wenn dort jemand in "normalem" Deutsch schreibt, dann kommt schon mal die geradezu rührende Aufforderung:

Aber das ist kompliziert für GL, SH auch, die Gls verstehen leider auch nicht was du ein komisches Schreibkopf geschrieben hast
Hmmmm
Kannst du mal für Gls die einfache Sätze schreiben:D

(GL = gehörlos, SH = schwerhörig)
(http://www.gl-cafe.de/viewtopic.php?t=1833)

Die Sprachbarriere ist die allerhöchste Barriere für Hörgeschädigte. Und ihre Beseitigung ist m.E. die personell und finanziell aufwändigste Maßnahme, wenn es um Barrierefreiheit für Behinderte im Internet geht. Barrierefreiheit für Hörgeschädigte bedeutet nämlich:

DREIsprachigkeit!

  1. "normales" Deutsch - dafür bedarf es keiner besonderen Maßnahmen.

  2. "einfaches" Deutsch
    Das Vereinfachen von Sprache ist alles andere als einfach. Es ist geradezu "eine Wissenschaft für sich". Für Journalisten und andere Textgestalter gibt es zwar mittlerweile spezielle Software wie z.B. capito, mit deren Hilfe man Texte analysieren, den Schwierigkeitsgrad einschätzen und modifizieren kann. Für Hörgeschädigte wäre sie aber nur bedingt einsetzbar. Voraussetzung für die Text-Adaption ist die möglichst exakte Kenntnis der Sprachkompetenz der Zielgruppe - des fiktiven Durchschnitts-Gehörlosen eben. Sprachvereinfachung bezieht sich auf Wortwahl, grammatikalische Auswahl und den Satzbau. Man kann dabei mit wissenschaftlichen "Tools" vorgehen, oder aber mit einem umfangreichen Schatz von Erfahrungen. So machen es z.B. Gehörlosenlehrer.
    Bisher gibt es im Internet KEIN spezielles Angebot für Gehörlose in einfacher Sprache. Lediglich im Taubenschlag biete ich die Startseite in einfachem Deutsch an. Wir würden dieses Angebot gerne erweitern, aber das ist eine Frage des Zeitaufwands.
    Für hörgeschädigte Kinder gab es die Zeitschrift Das bunte Blatt, deren ehemalige Schriftleiterin Cäcilie Segschneider ein sehr interessantes Referat über die sprachpädagogische Konzeption des Blattes gehalten hat. Im Moment ist die "Wiederbelebung" des bunten Blattes geplant. Sowohl Print- als auch online-Ausgabe sind von StudentInnen erstellt worden, daher nicht perfekt - aber doch schon sehenswert: http://www.das-bunte-blatt.de/. Die Zielrichtung, die einfache Sprache eben, ist unverkennbar.

  3. Gebärdensprache
    In ihrer Muttersprache, der DGS (Deutsche GebärdenSprache) sind Gehörlose natürlich NICHT behindert. Was liegt also näher, als diese Sprache auch im Internet zu nutzen? Ich will Ihnen dafür einzelne Beispiele zeigen:
    http://www.signpostbsl.com/ - die Website britischer Gebärdensprachdolmetscher für das Fernsehen
    http://www.websourd.org/ - der Entwurf für eine französische Gehörlosen-Informations- und Bildungswebsite (interessant dabei: Primärsprache ist die Gebärdensprache, für Besucher, die sie nicht beherrschen, gibt es Texteinblendungen)
    http://www.giby.de - das Bayerische Institut zur Förderung der Kommunikation Gehörloser und Hörbehinderter e.V. sucht freie Mitarbeiter, um die komplette Internetpräsenz in Gebärdensprache umsetzen zu lassen
    http://www.klefeker.de - eine Gebärdensprachdolmetscherin gibt Erläuterungen zu ihrer Homepage in DGS

Wenn denn tatsächlich auf besondere Bedürfnisse Hörgeschädigter in den Medien hingewiesen wird, dann ist es die Umsetzung akustischer Informationen in visuelle. Eigentlich eine Banalität! Entweder sollten Sound und Text parallel angeboten werden, wie z.B. bei der Tagesschau, oder aber mit Untertiteln. Eine Untertitelung von RealVideos z.B. ist technisch kein Problem, sondern nur eine Frage des Goodwill.

Ich hoffe, Ihnen verdeutlicht zu haben, dass es für Hörgeschädigte sehr wohl Barrieren gibt im Internet, und zwar sehr massive. Die Beseitigung dieser Barrieren lässt sich nicht mit technischen Hilfsmitteln allein bewerkstelligen. Der permanente Einsatz von qualifizierter Manpower und damit von Finanzen ist unumgänglich. Ich hoffe, dass Sie diese Anregungen in Ihrer Arbeit umsetzen können. Und nebenbei bemerkt: Sie würden nicht nur für die (gar nicht mal so kleine!) Zielgruppe der Hörgeschädigten arbeiten. Lernbehinderte, geistig Behinderte, Ausländer mit eingeschränkten Deutschkenntnissen u.a.m. würden es Ihnen ebenfalls danken. Behindertenorganisationen wie z.B. PeopleFirst vertreten letztlich die gleichen Interessen wie Hörgeschädigte.

Weiterführendes

Wenn Sie sich intensiver mit diesem Thema befassen möchten, kann ich Ihnen zwei Diplomarbeiten empfehlen:

(URL zum Download: http://www.taubenschlag.de/lernen/wifo.html#diplom)

Wenn Sie Kontakt mit einer kompetenten Kollegin aufnehmen wollen, wenden Sie sich an Christine Linnartz (linnartz@syrius.de). Sie ist selbst gehörlos, hat als Sozialarbeiterin am Berufsförderungszentrum Essen gearbeitet und ist jetzt beim Medienhaus Syrius tätig.

Bernd Rehling
rehling@taubenschlag.de

Link- und Stichwortsammlung für ein studentisches Projekt zum gleichen Thema